Die geprügelte Generation
verzichten, wenn man mich statt dessen weniger peitschen würde.« Sein Leben lang war er von Alpträumen heimgesucht, schreckte nachts voller Horror davor auf, er könne morgens wieder ausgepeitscht werden.
Erst später, im 19. Jahrhundert, »kam das altmodische Peitschen in den meisten Teilen Europas und Amerikas allmählich aus der Mode. Am längsten«, so deMause in seinem Ende der 1970er Jahre in den USA erstmals erschienenen, noch heute als Klassiker der Pädagogik-Geschichte geltenden Buch, »hielt es sich in Deutschland, wo 80 % der Eltern noch immer das Schlagen ihrer Kinder billigen, volle 35 % das Schlagen mit Rohrstöcken.« Als auch dies immer weniger akzeptiert wurde, musste ein Ersatz her. Denn die allgemeine Auffassung, Kinder müssen bestraft, erschreckt, sanktioniert werden, hielt sich hartnäckig. Der US-Psychologe fand heraus, dass sich im 18. und 19. Jahrhundert zum Beispiel das Einsperren von Kindern im Dunkeln verbreitete. So wurden Kinder in »dunkle Klosetts« gesperrt und mussten dort stundenlang bleiben. Manchmal, so deMause, »blieben Kinder tagelang in Räume eingesperrt.«
Emile verkündete keine Wattepädagogik
Jean-Jacques Rousseau hat diese Grundeinstellung zum Kind im 18. Jahrhundert durch sein berühmtes Buch »Emile« in Frage gestellt. Sein theoretisches pädagogisches Konzept war das genaue Gegenteil der bisherigen Haltung. Er ging davon aus, dass das Kind von Grund auf gut sei. Und wenn man es vor schlechten Einflüssen der Gesellschaft schütze, dann werde es auch gut aufwachsen. Es müsse, so Rousseau, deswegen nicht gestraft werden, sondern es müsse nur die realen Auswirkungen seines Verhaltens erfahren.
»Das ist keine Wattepädagogik«, erläuterte Erziehungswissenschaftler Ulf Preuss-Lausitz mir gegenüber diesen Aspekt von Rousseaus Pädagogikkonzept, »sondern wenn das Kind eine Scheibe eingeschmissen hat, dann muss es eben frieren. Oder es muss die Scheibe selber wieder reparieren. Das war das Konzept. Das Kind wird deswegen nicht geschlagen werden, sondern es lernt durch das Leben.« Rousseau, so bedauerte der Erziehungsexperte während unseres Gespräches, »ist Jahrhunderte lang ungehört verhallt. Erst im 19. Jahrhundert hat wieder ein großer gesellschaftlicher Diskurs über die richtige Kindererziehung begonnen, Stichwort Reformpädagogik. Aber die ist auch nur von einem Teil der Öffentlichkeit, der bürgerlichen Öffentlichkeit, überhaupt zur Kenntnis genommen worden.«
»Emile« wurde schnell vergessen. Es wurde nichts aus dem behutsamen Wachsen lassen eines kleinen Wesens, nichts aus dem Genuss der Freiheit, in den Kinder gelangen sollten. So zogen sie sich denn stattdessen weiter hin, die Erziehungsrituale vieler Jahrhunderte. Sie hinterließen Striemen und blaue Flecken auf den Körpern der Kinder, Blessuren auf ihren Seelen. Wie bei Erich Mühsam, dem Revolutionär, Bohemien und Lyriker, von dem im Sommer 2010 der erste Band seiner Tagebücher aus den Jahren 1910–1911 im Verbrecher-Verlag Berlin erschien. Darin beschreibt Mühsam die sadistischen Prügelstrafen seines Vaters,der den Sprössling offenbar für missraten hielt und dies durch Schläge ausdrückte, »mit denen alles, was an natürlicher Regung in mir war, herausgeprügelt werden sollte«. So setzte es eine dreifache Tracht Prügel, wann immer sich Erich heimlich Bücher beschaffte und dafür kleine Geldsummen stibitzte. Hierfür hatte sich der Junge an drei Tagen »zum Empfang der Strafe« beim Vater zu melden. Etwas »Haarsträubenderes an viehischer Grausamkeit« wurde wohl kaum jemals gegenüber einem 12- bis 13-jährigen ausgesonnen, so Mühsam in seinen Tagebüchern.
Heribert Prantl wies im April 2010 in der Süddeutschen Zeitung darauf hin, dass »zwei Jahrtausende lang ›Frau Grammatika‹, also die Symbolfigur für Schule und Unterricht, mit der Rute in der Hand gezeigt worden ist. Und zwei Jahrtausende lang hieß das, was heute elterliche Sorge heißt, elterliche Gewalt.«
Der Tod eines Kindes und ein aufsehenerregender Prozess
Heute erinnert sich kaum noch jemand an den Fall des Hauslehrers Andreas Dippold, der einen seiner Schüler zu Tode züchtigte. Dabei wäre es geblieben, wenn nicht der Schweizer Wissenschaftsforscher Michael Hagner bei Recherchen auf eine Mappe gestoßen wäre, die Zeitungsausschnitte über diesen Fall enthielt. Neugierig geworden recherchierte Hagner weiter, stieß in Archiven auf Prozessakten ebenso wie auf die Korrespondenz des jungen Erziehers
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