Die geprügelte Generation
vorgeschrieben ›Heil, mein Führer‹ sagte ich ›Heil Hitler, mein Führer‹, und ehe ich mich versah, gab mir mein Vater so eine Ohrfeige, dass ich dachte, er hätte mir den Kiefer gebrochen, und mir die Tränen in die Augen traten – was ebenfalls verpönt war. Ich wäre am liebsten im Erdboden versunken. Warum musste er das tun, vor dem Chef?«
Eine gewalttätige herrische Jugend muss her
Das Verhalten von Martin Bormanns Vater entsprach ganz dem Zeitgeist. Wer 1933 in Deutschland zwischen vier und fünfzehn Jahren alt war, wurde in ein geistig-politisches Klima hineingeboren, das von einer Mixtur aus Nationalismus und kriegerischem Heroismus »bereits wesentlich bestimmt war«, schreiben Ute und Wolfgang Benz in ihrem Buch »Deutschland, deine Kinder«. Ob in der Familie, ob in der Schule, ob in den Organisationen der Jugend selbst, ob in der Literatur, ob in einem beträchtlichen Teil der landauf, landab gesungenen Lieder – »nirgends gab es ein Entrinnen vor der Droge Nationalismus und vor der mentalen Vorbereitung auf Kampf und Krieg und Heldentod.«
Die NS-Pädagogik war allerdings nach Einschätzung der Soziologin Sigrid Chamberlain nicht nur eine bruchlose Fortsetzung dessen, was vorher schon war. »Es musste ziemlich vieles ›ausgemerzt‹ werden an bäuerlicher Tradition …; an reformpädagogischen Experimenten, an psychologischen Erkenntnissen und psychoanalytischen Ansätzen in Pädagogik, Fürsorgeerziehung und Medizin; es gab bereits in den 20er Jahren Frauenkliniken mit Rooming-in und Dissertationen zur Notwendigkeit des Stillens gleich nach der Geburt; es gab junge Frauen, die Italienischlernten, um in Italien Montessori-Ausbildungen zu machen.« 16 Doch ab 1933 war mit all dem Schluss. Autoritätshörigkeit war gefragt, Härte im Umgang mit dem neuen, gestählten, heroischen Menschen gefordert.
»Während der alte Staat ein Nachtwächterstaat war, ist unser Staat ein Erziehungsstaat«, hatte der Leiter der Deutschen Arbeitsfront, Robert Ley, schon 1933 propagiert. »Ein Pädagoge, ein väterlicher Freund«, sei der NS-Staat. Er lasse den Menschen nicht mehr los, von der Wiege bis zum Grabe. »Und so fangen wir schon beim Kinde von drei Jahren an; sobald es anfängt zu denken, bekommt es schon ein Fähnchen zu tragen. Alsdann folgt die Schule, die Hitlerjugend, die SA, der Wehrdienst.«
Ley war damit nichts weiter als die Stimme seines Herrn. Martin Bormann, der Priester und Sohn des NS-Schreibtischtäters, hat später Hitlers Erziehungsvorstellungen in einer von ihm herausgegebenen »Analyse zur Sprache des Dritten Reiches« zitiert. Darin gibt er eine Erziehungsanweisung Hitlers wieder, die da lautete: »Meine Pädagogik ist hart. Das Schwache muss weggehämmert werden. In meinen Ordensburgen wird eine Jugend heranwachsen, vor der sich die Welt erschrecken wird. Eine gewalttätige, herrische, unerschrockene, grausame Jugend will ich. Jugend muss das alles sein. Schmerzen muss sie ertragen. Es darf nichts Schwaches und Zärtliches an ihr sein. Das freie, herrliche Raubtier muss erst wieder aus ihren Augen blitzen. Stark und schön will ich meine Jugend. Ich werde sie in allen Leibesübungen ausbilden lassen. Ich will eine athletische Jugend. Das ist das erste und wichtigste. So merze ich die tausende von Jahren der menschlichen Domestikation aus. So habe ich das reine, edle Material der Natur vor mir. So kann ich das Neue schaffen.« 17
Johanna Haarers Kampfansage an das Neugeborene
In seinem Pamphlet »Mein Kampf« schrieb Hitler: Der Staat »hat seine Erziehungsarbeit so einzuteilen, dass die jungen Körper schon in ihrer frühesten Kindheit zweckentsprechend behandelt werden und die notwendige Stählung für das spätere Leben erhalten […] Diese Pflege- und Erziehungsarbeit hat schon einzusetzen bei der jungen Mutter.« Ratschläge dazu bekamen die jungen Mütter von der maßgeblichen NS-Pädagogin: von Dr. med. Johanna Haarer, einer im Jahr 1900 geborenen Münchener Ärztin.
1934 erschien Haarers erstes Erziehungshandbuch unter dem Titel: »Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind«, das zum Bestseller wurde und wie kein anderes Hitlers Erziehungsvorstellungen in die Praxis übersetzte. Es war eine Kampfansage an das neugeborene Baby, dem von seinem ersten Moment an die Naziideologie eingetrichtert werden sollte. Durch strenge Maßregelungen, durch das rigorose Brechen seines Willens.
»Schreien lassen! Jeder Säugling soll von Anfang an nachts allein sein. Nun macht ja
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