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Die geprügelte Generation

Die geprügelte Generation

Titel: Die geprügelte Generation Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingrid Müller-Münch
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in manchen Fällen sogar unentbehrlich.« 14
    Erstaunlich am Fall Dippold war jedoch, dass dieser Erzieher ebenso wie die Mutter des von ihm totgeprügelten Schülers Anhänger der damaligen reformpädagogischen Bestrebungen war,die um die Jahrhundertwende eine immer größer werdende Anhängerschaft fanden. Und die immerhin am Ende der Weimarer Republik mit zahlreichen Reformschulen aufwarten konnte. Unter anderem Peter Petersen und Maria Montessori konzentrierten sich auf die ihrer Meinung nach real existierenden Bedürfnisse des Kindes. Oft war ihre Pädagogikvorstellung von einem elitären Menschenbild und einer romantisierten Gemeinschaftsideologie durchsetzt. Sie erreichten damit aber weitgehend nur besondere Eliten, aufgeschlossene Bürgerfamilien. So wie die Bankierfamilie Koch, die allerdings nur solange diesem neuen Erziehungskonzept anhing, wie es sich als hilfreich bei der Dressur ihrer beiden Söhne erwies.
    Als 1933 die Nazis an die Macht kamen, war es vorbei mit diesen reformpädagogischen Ansätzen, mit Zuwendung und Empathie dem Kind gegenüber. Auch wenn sie sich gern einzelner reformpädagogischer Ideen bedienten und sie für ihre Zwecke umwandelten. Von nun an gesellte sich zu den noch immer dominierenden preußisch und christlich geprägten Erziehungsidealen, die die Kindheit vieler Generationen zur Qual gemacht hatten, der Drill des Kasernenhofes.
    Warum tat er das vor dem Chef?
    Der Mann, den ich im Mai 1996 in seiner Privatwohnung aufsuchte, war mir gleich sympathisch. Er war groß gewachsen, hielt sich sehr aufrecht, strahlte eine natürliche Autorität aus, hatte dabei etwas Sanftes, überzeugend Ehrliches an sich. Martin Bormann, so sein Name, war eigentlich Zeit seines Lebens damit beschäftigt, sich mit seinem Mördervater auseinanderzusetzen, ihm zu verzeihen, an seiner statt zu sühnen und gleichzeitig die rigorosen Erziehungsmethoden der Nazi-Ideologie zu verarbeiten. Es war der älteste und gleichnamige Sohn von Hitlers rechter Hand, dem heimlichen Herrscher des Dritten Reiches, Leiter derNS-Parteikanzlei, bürokratischer Vollstrecker der von Hitler bei Tisch- und Spaziergängen so dahin geworfenen Gedanken, mitverantwortlich für den Mord an Millionen Menschen. Im Nürnberger Kriegsverbrecherprozess war dieser verbrecherische Vater 1946 in Abwesenheit zum Tode verurteilt worden. Sein Sohn Martin, bei unserem Gespräch 66 Jahre alt, war lange Zeit als Priester und Missionar in Afrika gewesen. Später hatte er den Orden verlassen und geheiratet.
    Im Verlauf meines Gesprächs mit dem noch immer streng katholischen Martin Bormann 15 fragte ich ihn: »Es heißt, Ihr Vater sei sehr streng mit seinen neun Kindern umgegangen. Er soll sie mit Hunde- und Pferdepeitsche geschlagen haben, wenn sie nicht parierten. Auch Ihrer Mutter gegenüber soll er unglaublich autoritär aufgetreten sein. So soll er sie zum Beispiel mit einem Pfiff zu sich beordert haben. Können Sie sich an solche Situationen erinnern?«
    Bormann antwortete mir: »Dass er streng war, das ist sicher richtig. Einer meiner Brüder hat mal mit der Peitsche Hiebe bekommen, weil er eines von den Hausmädchen beklaut hatte. Das sind so drakonische Strafen. Aber Körperstrafen waren damals überhaupt noch nicht so negativ angesehen wie heute. Eine strenge Erziehung verbunden mit einer körperlichen Züchtigung, das war damals allgemein gang und gäbe. Das kam mit guter Tradition aus dem Obrigkeitsstaat, aus dem Kaiserreich. Erst nach dem Krieg wandelte sich hierzu die Einstellung schrittweise zu der heutigen Ablehnung von körperlicher Züchtigung. Wenn man das über meinen Vater in der Ballung liest, sieht es furchtbar aus.«
    Ein Sohn also, der seinen Vater in Schutz nimmt. Nach allem, was der nicht nur ihm sondern einem ganzen Volk angetan hatte. Ein Vater, der seinen Sohn bis aufs Blut beschämen und bloßstellen konnte. An eine Situation erinnert sich Sohn Martin besonders. Eine Situation, die ihn, wie er einer Journalistin gegenüber einmal zugab, doch geärgert hatte. Damals war der kleine Martin dreizehn Jahre alt und kam in den Ferien aus seinem Eliteinternatin Feldafing, der »Reichsschule der NSDAP«, zurück nach Hause auf den Obersalzberg. Als Hitlers Patensohn musste er gleich bei Ferienbeginn zu einer Audienz beim Führer antreten. Und stand nun stramm vor Hitler, gekleidet in seine Feldafinger Schuluniform. Zum Gruß hob der Junge seinen Arm. »Aber ich machte einen Fehler«, erinnert er sich. »Statt wie

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