Die geprügelte Generation
an dieser Stelle. Wobei ich mich fragte, wieso eine solch gestandene erfolgreiche Frau rückblickend über diese Mutter, die sie um so viel Genussfähigkeit und Selbstwertgefühl gebracht hat, noch im hohen Alter sagt, sie habe sie bewundert. Hat sie den Drill der Mutter nie infrage gestellt? Nie Wut auf diese Frau gehabt, die sie um einen Teil ihrer Lebensqualität brachte? Wo es doch diese Mutter war, die Renate Holm das Genießen mit »rechts und links eine um die Ohren« ausgetrieben hatte. Der Preis, den die Kammersängerin für die Disziplin zahlen musste, der sie ihre Karriere verdankte, war meiner Ansicht nach zu hoch. Denn was hatte ihr dieser Erfolg gebracht, wenn sie ihn nicht genießen konnte? Wenn sie nichts im Leben so richtig genießen konnte, wie sie an diesem Abend sagte. Wer so wie Renate Holm früh schon zu Hause parieren lernt, seinenEltern gehorcht, keine unbequemen Nachfragen stellt, wer sich an Ohrfeigen gewöhnt, sich einengt, einzwängt – aus dem wird im Leben möglicherweise eine erfolgreiche Kammersängerin, der Liebling aller Regisseure. Aus dem wird aber nur im Ausnahmefall ein glücklicher, zufriedener Mensch, egal wie viel Erfolg, wie viel Wohlergehen ihm das Leben beschert. Stattdessen könnte aus ihm gut und gern der ideale Untertan werden, der künftige Soldat seines Königs, der Befehlsempfänger, derjenige, der ohne Schwierigkeiten zu machen der Obrigkeit gehorcht. Denn das wurde ihm sozusagen mit dem Rohrstock eingeprügelt. Um dies zu erreichen, wurden über Jahrhunderte hinweg den Kindern Widerspenstigkeit und Eigensinn durch pädagogische Gewaltakte ausgetrieben. Herrscher sind auf gehorsame Untertanen angewiesen, Regisseure lieben folgsame Kammersängerinnen.
Ein Reformator mit gnadenlosen Parolen
Es war einmal ein Kind eigensinnig und tat nicht, was seine Mutter haben wollte. Darum hatte der liebe Gott kein Wohlgefallen an ihm und ließ es krank werden, und kein Arzt konnte ihm helfen, und in kurzem lag es auf dem Totenbettchen. Als es nun ins Grab versenkt und die Erde über es hingedeckt war, so kam auf einmal sein Ärmchen wieder hervor und reichte in die Höhe, und wenn sie es hineinlegten und frische Erde darüber taten, so half das nichts, und das Ärmchen kam immer wieder heraus. Da musste die Mutter selbst zum Grabe gehen und mit der Rute aufs Ärmchen schlagen, und wie sie das getan hatte, zog es sich hinein, und das Kind hatte nun erst Ruhe unter der Erde. 6
Eine grausame Geschichte wird in diesem Märchen über »Das eigensinnige Kind« erzählt, das die Gebrüder Grimm 1815 in ihreKinder- und Hausmärchen-Sammlung aufnahmen. Bis ins Grab hinein verfolgt die Mutter ihren Sprössling – nicht mit Trauer und Tränen, sondern mit der Rute. Und der Tod, so wird hier dargestellt, kam von Gott gesandt, der kein Wohlgefallen an diesem Kind hatte, denn es war »eigensinnig«. Dieses Märchen hat mich schon immer verstört. Und als ich jetzt in Büchern über die Geschichte der Pädagogik blätterte, stieß ich auf einen ähnlichen Text. 1552, also mehr als 250 Jahre zuvor, schrieb Hans Sachs ein Meisterlied »von der Kinderzucht«. Darin heißt es: »Haut mit Ruten die toten Hände / achtzehn Stunden lang am Ende«. Auch hier geht es um ein totes Kind, dessen Hand noch immer widerspenstig aus dem Grab ragt.
Ab wann begannen Eltern eigentlich ihren Kindern den Eigensinn derart brutal auszutreiben, ihnen Buckeln und Duckmäusertum mit Gewalt einzubläuen? Offenbar schon, seit sich Eltern von ihren Kindern genervt fühlen, sie zur Anpassung und zum Gehorsam zurechtbiegen wollen. Der Reformator Martin Luther, der für eine harte Hand im Umgang mit den Sprösslingen plädierte, zitierte gern den alttestamentarischen Prediger Salomon mit den Worten: »Wer seine Rute schonet, der hasset seinen Sohn; wer ihn aber lieb hat, der züchtigt ihn bald.« Aussprüche die zeigen, dass schon vor über 2 000 Jahren Eltern im Umgang mit ihren Kindern auch nichts anderes einfiel, als deren Willen mit Gewalt zu brechen.
Die in der Erziehung legitimierte Gewalt bezeichnete die Journalistin und Autorin Katharina Rutschky im Zuge der Studentenrevolten und des allgemeinen Umschwungs in den 60er und 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts als »Schwarze Pädagogik«. 7 Damit definierte sie eine Erziehung, die auf der Brechung des kindlichen Willens basierte. Und als deren vehementer Verfechter sich Reformator Martin Luther hervorgetan hatte. Seine Worte hatten über Jahrhunderte hinweg
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