Die geprügelte Generation
mit den Eltern der ihm anvertrauten beiden Schüler und veröffentlichte 2010 sein faszinierendes Buch »Der Hauslehrer«. Darin wird eindrucksvoll beschrieben, wie intensiv sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Gazetten mit dem Prozess gegen Dippold befassten, der 1903 in Bayreuth stattfand. Angeklagt war der damals 23-jährige ehemalige Jurastudent und spätere Hauslehrer, weil er einen der beiden ihm anvertrauten Jungen so misshandelt, geprügelt und gezüchtigt hatte, dass der 14-Jährige an den Folgen der Verletzungen starb. Der Bezirksarzt,der seinerzeit den Tod des Schülers Heinz Koch feststellte, bemerkte an dem Leichnam blutunterlaufene Striemen, Schwellungen und Blutergüsse.
Dass Heinz Koch geprügelt wurde, war damals völlig in Ordnung, gesellschaftlich akzeptiert. Was nicht akzeptiert wurde, war Dippolds Heftigkeit, die zum Tod seines Schützlings führte. Dies jedenfalls war die einhellige Meinung der Öffentlichkeit zu dem Skandal, den der Tod des Jungen selbst in der an prügelnde Erzieher gewöhnten Wilhelminischen Zeit hervorrief. Die Familie Koch gehörte großbürgerlichen Berliner Kreisen an, der Vater war im Vorstand der Deutschen Bank. Die Rollenverteilung in der Familie entsprach dem damaligen Zeitgeist: Für das Geldverdienen war der Vater, für die Erziehung der Kinder die Mutter zuständig. Den Vater bekamen die Kinder so gut wie nie zu Gesicht. Erziehung und Vermittlung bürgerlicher Werte wie Bildung, Arbeitsdisziplin und Pflichterfüllung oblagen der Frau. Das war die klassische Rolle, die bürgerliche Frauen um 1900 einnahmen.
Als die Mutter merkte, dass ihr die beiden Söhne entglitten, steckte sie sie zunächst in ein reformpädagogisch ausgerichtetes Landerziehungsheim. Immerhin, so Autor Hagner, setzte die Reformpädagogik dort darauf, Neugierde und Engagement bei den Schülern zu wecken, nahm von Strenge und körperlicher Züchtigung Abstand. Damals durchaus etwas Besonderes. Doch auch dort kam man mit dem Desinteresse und der Lethargie der beiden Koch-Kinder nicht klar. Daraufhin engagierte die Mutter in ihrer Verzweiflung Andreas Dippold als Hauslehrer. Dippold war ein mittelloser Jurastudent, der beim Vorstellungsgespräch mit Kenntnissen pädagogischer Klassiker wie Rousseau aufgewartet hatte. Er sollte die beiden Söhne nun zurechtbiegen, denen Faulheit, mangelnde Motivation, Müßiggang, Unzuverlässigkeit und geistige Trägheit vorgeworfen wurde. Der Hauslehrer sollte ihnen Zucht und Ordnung beibringen. Notfalls mit Schlägen. Das billigte die Mutter durchaus, wie aus der Korrespondenz zwischen ihr und Dippold hervorging, die später eine entscheidendeRolle in dem Strafverfahren nach dem Tod ihres ältesten Sohnes spielte.
Zwischen Mutter und Hauslehrer entwickelte sich in der darauffolgenden Zeit eine unselige Allianz, die dazu führte, dass die verzweifelte und sich vor den Vorwürfen ihres Mannes fürchtende Frau Dippold fast gänzlich freie Hand bei der Erziehung ihrer beiden Söhne ließ. So erlaubte sie Dippold, sich mit den Kindern auf einen Familiensitz im Harz zurückzuziehen. Gestattete, dass sie mit ihren Söhnen nur noch korrespondieren durfte, nachdem Dippold die Briefe kontrolliert hatte. Dippold ließ sie wissen, dass die Jungs unaufhörlich onanierten und er alles tue, um dies zu unterbinden. Er nutzte seine Macht aus, fesselte seine Zöglinge manche Nacht ans Bett, legte sich zwischen die Jungs, angeblich, um sie vom Griff unter die Bettdecke abzuhalten.
All diese Details wurden im späteren Strafverfahren nach und nach bekannt. Sie machten deutlich, dass Ärzte, Verwandte, das Dienstpersonal, ja selbst die Mutter nicht einschritten, obwohl sie wussten, dass dieser Hauslehrer die Kinder heftig züchtigte. Dippold konnte ungehindert den Rohrstock schwingen. Eine damals gebräuchliche Praxis. Der Hauslehrer hatte mit der Heftigkeit seiner Züchtigung der Kinder zweifellos übertrieben, aber im Prinzip war sie durch die Wissenschaft gedeckt. Denn nicht nur Pädagogen, auch Sexualwissenschaftler jener Zeit propagierten die Prügelstrafe als ein ausgesprochen wirksames Mittel gegen Onanie und forderten dazu auf, gegen dieses Laster mit größter Härte vorzugehen. Es führe zum geistigen Verfall, schlaffen Muskeln und dunklen Rändern unter den Augen. In einem Erziehungsratgeber von 1879 hieß es über den Umgang mit onanierenden Kindern und Jugendlichen: »Die körperliche Züchtigung ist im allgemeinen gerechtfertigt, in vielen Fällen empfehlenswert,
Weitere Kostenlose Bücher