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Die geprügelte Generation

Die geprügelte Generation

Titel: Die geprügelte Generation Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingrid Müller-Münch
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Gewicht. Sie haben den Umgang vieler Generationen mit ihren Kindern geprägt. Die 1621 erschienenen Erziehungsanweisungen, die auf Luthers Gedankengutbasierten, propagierten: »Das Kind in der Wiege ist sowohl eigensinnig wie voller krankhafter Zustände. Wiewohl sein Körper klein ist, hat es doch ein sündhaftes Herz und neigt zum Bösen.« 8 Eltern und Lehrer sollten diesem Kind von klein an das Böse austreiben, sich Autorität sozusagen erprügeln.
    Luther hat einmal über seine eigene Kindheit gesagt: »Die Eltern haben mich hart gehalten, dass ich darüber gar schüchtern wurde. Die Mutter schlägt mich einmal um einer Nuss willen, dass das Blut herausfloss. Aber sie meinten’s herzlich gut.« Damit entschuldigte Luther nicht nur die ihm angetane Brutalität. Er übernahm sie und propagierte sie weiter.
    Martin Luther sorgte als Vordenker und Autoritätsperson ab Beginn des 15. Jahrhunderts für Zucht und Ordnung, Gehorsamkeit und Unterwerfung – vor allem im Kinderzimmer. Über das Ziel seiner Erziehungsratschläge äußerte er sich folgendermaßen: »Feine, wohlgesittete Bürger und züchtige häusliche Frauen« wolle er mit der Rute heranprügeln, die dann »weiterhin auch ihre Kinder und ihr Gesinde zur Rechenschaft erziehen könnten.«
    Als Martin Luther in seiner Schrift »An die Burgmeyster und Radherren allerley Stedte ynn deutschen Landen« 1524 die Kommunalvertreter der Städte aufforderte, für eine bessere Schulbildung zu sorgen, tat er das zu einer Zeit, als das Verhalten von Eltern ihren Kindern gegenüber eher durch Nachlässigkeit geprägt war. Kinder konnten seit Jahrhunderten mehr oder weniger sich selbst überlassen aufwachsen. Im Mittelalter war Erziehung kein Thema, außer in den Lateinschulen der Geistlichen, in den Pfarrschulen, die einzelne Städte eingerichtet hatten. Ansonsten, so Carl-Heinz Mallet in seinem Buch »Untertan Kind«, war der Begriff »Kindheit so gut wie unbekannt. Kinder waren kein Thema. Man sprach nicht über sie, beschäftigte sich nicht mit ihren Sorgen, Nöten, Bedürfnissen, und schon gar nicht gab es so etwas wie Erziehungstheorien, Erziehungsideale oder überhaupt irgendetwas, was man Pädagogik nennen könnte.« 9 Mallet wundert es nicht, dass man auf den meisten Bildern der damaligenZeit Darstellungen von Kindern vergeblich sucht. Und wer tatsächlich auf ein Kinderbild stößt, der erblickt ein wie ein verkleideter Erwachsener aussehendes Kind.
    Buchstäblich hautnah erlebten Kinder Zeugung, Geburt und Tod mit, beschreibt Carl-Heinz Mallet. »Nichts geschah hinter Kulissen, und wer auch nur laufen konnte, nahm ohne weiteres teil am Leben: an Kirchgängen, Beerdigungen, an grausamen Hahnenkämpfen, an Trinkgelagen und an öffentlichen Hinrichtungen […] Die mittelalterlichen Straßen waren voll von Kindern. Man gab den Kindern Almosen, aber kein Mensch fühlte sich verpflichtet, auch nur die geringste Aufsicht über sie zu führen.«
    Hört ihr die Kinder weinen?
    »Die Geschichte der Kindheit ist ein Alptraum, aus dem wir gerade erst erwachen.« Mit diesem Satz beginnt der US-Psychologe Lloyd deMause seinen 1980 erschienenen Band: »Hört ihr die Kinder weinen – eine psychogenetische Geschichte der Kindheit«. Darin heißt es: »Je weiter wir in der Geschichte zurückgehen, desto unzureichender wird die Pflege der Kinder, die Fürsorge für sie, und desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass Kinder getötet, ausgesetzt, geschlagen, gequält und sexuell missbraucht wurden.« 10 Für ihn ist die Geschichte der Kindheit nach wie vor ein weites, unerforschtes Feld.
    Sein Buch ist eine einzige Anklage des Umgangs von Eltern mit ihren Kindern – über die Jahrhunderte hinweg. »Selbst ein so simpler Akt wie der, sich in Kinder, die geschlagen werden, einzufühlen, war für Erwachsene in der Vergangenheit schwierig«, schreibt deMause. »Die wenigen Erzieher, die vor unserer modernen Zeit dazu rieten, Kinder sollten im allgemeinen nicht geschlagen werden, begründeten das damit, dass das Schlagen böse Folgen habe, und nicht etwa damit, dass es dem Kind Schmerzenzufüge oder es verletze. Ohne das Element der Empathie hatte dieser Rat überhaupt keine Wirkung, und die Kinder wurden weiter wie zuvor geschlagen.«
    In »Schwarze Pädagogik«, ihrer 1977 erschienenen, verstörenden Auflistung der Erziehungsschriften aus vergangenen Jahrhunderten, zitiert die Journalistin Katharina Rutschky unter anderem einen Pädagogen namens J. Sulzer, der vor 200 Jahren all

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