Die geprügelte Generation
Kindergeschrei vor Türen und Mauern nicht halt. Die Eltern müssen dann eben alle Willenskraft zusammennehmen und, nachdem das Kind gut versorgt wurde, sich die Nacht über nicht sehen lassen […] So viel Strenge und Beharrlichkeit ist natürlich nicht jedermanns Sache, und besonders den Großmüttern völlig unverständlich«, so Haarer.
1936 erschien Haarers Fortsetzungsband »Unsere kleinen Kinder« und 1939 das Lesebuch »Mutter, erzähl von Adolf Hitler«. Alle drei Bücher wurden große Erfolge, nicht zuletzt deshalb, weil der »Völkische Beobachter« sie als ein wundervolles Werk für jede frisch verheiratete Frau empfahl. Bei Kriegsende hatte »Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind« eine Auflage von fast 700 000 verkauften Büchern erreicht.
Die Soziologin Sigrid Chamberlain veröffentlichte 1997 eine umfassende Analyse der Haarer-Bücher. Darin schreibt sie: »Haarers Bücher galten als praktisch. Sie waren aber auch politischePropagandaschriften. Und es wurde in ihnen eine ›Pädagogik‹ vertreten, die ausdrücklich auf das nationalsozialistische System hin erziehen sollte. Das bedeutet, dass sehr viele Menschen, im Dritten Reich und auch noch in den Jahren danach geboren, mit frühen nationalsozialistischen Prägungen ins Leben entlassen wurden, ohne sich dessen bewusst zu sein und ohne überhaupt zu merken, was sie möglicherweise weitergaben.« 18
So riet Haarer den Müttern, das Neugeborene gleich nachdem es abgenabelt war, in ein Tuch gehüllt zur Seite zu legen, und es erst nach 24 Stunden zum ersten Stillen zu holen. Später dann, sobald das Kind im Krabbelalter war, sollte man es häufig ermahnen und zurechtweisen. Immerhin führe sein Nachahmungstrieb »dann gar bald dazu, dass es versucht, Gleiches mit Gleichem zu vergelten, und dass es nun seinerseits anfangen will, der Mutter oder anderen Erwachsenen allerhand Vorschriften zu machen. Dies darf man auf gar keinen Fall dulden. Belacht man die ersten und wirklich drolligen Vorstöße des Kindes in dieser Richtung und lässt man es gutmütig gewähren, so haben wir im Handumdrehen einen äußerst vorlauten und anmaßenden kleinen Querulanten vor uns, mit dem dann schwer fertig zu werden ist. Eingriffe in die Vorrechte und in die selbstverständliche Autorität der Großen werden daher mit strengen Schweigegeboten sofort in ihre Grenzen zurückgewiesen. Wir scheuen uns nicht, hier etwaige Widersetzlichkeit und das hässliche ›Maulen‹ der Kinder mit einem Klaps augenblicklich zu ›bestrafen‹«. Vor einem »Zuviel an Zärtlichkeit« wird wiederholt gewarnt, dabei wird nicht wirklich klar, was mit Zärtlichkeit gemeint ist und wo ein Zuviel anfängt, allerdings droht nach Haarer sehr schnell die sogenannte Affenliebe.
»Solche Affenliebe verzieht das Kind wohl, erzieht es aber nicht. Das Überschütten des Kindes mit Zärtlichkeiten, etwa gar vor Dritten, kann verderblich sein und muss auf die Dauer verweichlichen. Eine gewisse Sparsamkeit in diesen Dingen ist dem deutschen Menschen und dem deutschen Kinde sicherlich angemessener.[. .] Zärtlichen Müttern, die nun aber ihre Art auch nicht mehr gut ändern können, sei vorgeschlagen, das allzu Gefühlvolle und Sentimentale mehr ins Lustige und Humoristische abzubiegen.«
Sigrid Chamberlain glaubt, vielen dieser unter den Nazis großgewordenen Kindern müssten noch heute Parolen in den Ohren klingen wie »Entweder du parierst oder es setzt was« – »Entweder du spurst oder es knallt« – »Entweder ich höre keinen Mucks mehr, oder es setzt Ohrfeigen, dass du nicht mehr weißt, wo dir der Kopf steht« – »Entweder du isst den Teller sofort leer, oder du bleibst hier sitzen, bis du schwarz wirst« – »Entweder du schläfst jetzt sofort ein, oder du darfst heute Nachmittag nicht mit in den Zirkus« – »Entweder du reißt dich jetzt am Riemen, oder ich schlage dich windelweich«.
Die Soziologin hält Haarer wie viele andere Nazis auch für psychisch schwer gestört. Eine Gestörtheit, die sie durch ihre verheerenden Erziehungsratschläge an die Eltern weitergaben. Was dazu führte, dass, so Chamberlain, »das nationalsozialistisch erzogene Kind als ganz und gar beziehungsgestörtes prädestiniert dafür ist, Zuflucht in unheilvollen Symbiosen zu suchen. Das ist es dann schließlich auch, was den nationalsozialistischen Typus so anfällig macht für das Verschwimmen in der formierten Masse. In dieser Masse ist er dann scheinbar verbunden mit den vielen anderen. Diese
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