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Die geprügelte Generation

Die geprügelte Generation

Titel: Die geprügelte Generation Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingrid Müller-Münch
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ja schon vollbracht, während ihre Männer in Kriegsgefangenschaft waren. Ich denke in der Situation war sicher sehr viel Druck und Verzweiflung da. Und das führt«, so erläuterte mir Hofmann, »bei vielen Menschen unweigerlich zu Gewaltausbrüchen.«
    In dieser Atmosphäre des unterdrückten Zorns, des Vertuschens und Verschweigens wurden Ehen geschlossen, Kinder geboren. Eltern hätten gar nicht überleben können, hätten keine Energie mehr für Wiederaufbau und ein neues Leben gehabt, wenn sie sich der Verzweiflung und dem Kummer über das Verlorene und das Erlebte hingegeben hätten. Grund genug wäre da gewesen. Doch es half alles nichts. Der Schutt musste weggeräumt, Häuser gebaut, Essen und Kleidung besorgt werden. Um dies zu bewerkstelligen, konnte man nicht ständig an die Vergangenheit denken. Deshalb, so der Psychotherapeut Hartmut Radebold, lautete denn auch die Devise in den Nachkriegsjahren: »Bagatellisieren, Abschwächen und [bewusst] Vergessen und Verdrängen«. Mit dieser Haltung richtete sich das neu entstehende Westdeutschland seiner Meinung nach »in einer manchmal pathologischen Normalität ein«. 21
    Die Altvorderen mit dem braunen Schandfleck
    In fast allen gesellschaftlichen Bereichen hatten unselige Kontinuitäten die Nazizeit überlebt. Die Altvorderen mit dem braunen Parteibuch standen nach wie vor in Arbeit und Brot, bestimmten das Klima in der aufkeimenden Demokratie. Egal, ob sie lediglich Handlanger der NS-Vernichtungspolitik gewesen waren oder an vorderster Front die Ermordung von Millionen Menschen mitgestaltet hatten – bis auf wenige Ausnahmen kamen sie nach und nach wieder zurück auf ihre alten Plätze oder machten ungehindert Karriere in der neuen Republik.
    Allein in Nordrhein-Westfalen waren etwa 75 Prozent der Richter und fast 90 Prozent aller nach 1945 wieder amtierenden Staatsanwälte zuvor NSDAP-Mitglieder gewesen. Keiner der unter den Nazis wirkenden »furchtbaren Juristen« ist jemals für das Unrecht, das er gesprochen hatte, zur Rechenschaft gezogen worden. Auch bei der Polizei war es keineswegs zu einem personellen Austausch gekommen. Bis in die 1970er und 1980er Jahre hinein waren dort noch Beamte tätig, die den im Osten zur Judenermordung eingesetzten Polizei-Bataillonen angehört hatten oder bei der Gestapo tätig gewesen waren. Sie alle bildeten Nachwuchs aus, übermittelten ihnen ihr Gedankengut. 22
    Nach der Befreiung gab es in der neuen westdeutschen Demokratie einfach zu wenig unbescholtene Fachkräfte jeglicher Couleur, die das zerstörte Land wieder hätten aufbauen können. Die in ihre Heimat zurückgekehrten Emigranten wollte niemand an seiner Seite haben. Sie galten als trouble-shooter, als Menschen, die Ärger machen würden, und führten schon durch ihre bloße Existenz den im Lande Gebliebenen ständig vor Augen, dass die sich mit den Nazis arrangiert wenn nicht gar verbrüdert hatten. So zog man es vor, auf das Personal zurückzugreifen, das schon den Nazis gedient hatte. Setzte die fragwürdige Kompetenz ein, die das sogenannte »Dritte Reich« mitgestaltet hatte. Sie alle prägten das Klima der neuen Republik, verhinderten eine wirklicheErneuerung, einen echten Umbruch, ein Abrücken von der Vergangenheit. Sie alle drückten der neuen Zeit ihren alten Stempel auf.
    Zwischen Eltern, die sich mit all dem nur schwer zurechtfanden, und Kindern, für die das Neue selbstverständlich war, entstand eine große emotionale Kluft. Die Therapeutin Bettina Alberti erklärt sie in ihrem Buch »Seelische Trümmer« durch die »scheinbar unüberbrückbare Erfahrung des Erlebens und des Nicht-Erlebens des Krieges. Im Versuch, die Kinder vor den Schrecken des Zweiten Weltkrieges durch Schweigen zu schützen. Im Versuch, gegenüber Nachkommen in Täterfamilien Wahrheiten zu verschleiern und zu verleugnen. In der kollektiven emotionalen Unerreichbarkeit der Elterngeneration als Folge ihrer Kriegserfahrung. In den verinnerlichten nationalsozialistischen Erziehungsprinzipien, die eine physische und emotionale Distanz zwischen Eltern und Kindern installierten.«
    Eine Botschaft, die in den 50er und 60er Jahren sozusagen unausgesprochen weitergegeben wurde, war die »Verleugnung«. Mit der Last ihrer Vergangenheit musste die damalige Elterngeneration allein zurechtkommen. Die Umgebung verdrängte ebenso wie sie. Keiner bot sich als Ansprechpartner an. Jeder hatte genug mit sich selbst zu tun. Alle waren vorsichtig. Welche Rolle hatte der Nachbar seinerzeit

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