Die geprügelte Generation
Bevölkerung, dass das keine große Rolle gespielt hat. Ebenso wenig wie das Prügeln von Kindern.«
Psychotherapeut Martin Stokowy zeigte sich im Interview mit mir davon überzeugt, dass die Generation, die in den 50er und 60er Jahren Eltern wurde, nach allem, was sie erlebt hatte, »massiv traumatisiert war. Einmal, weil viele von ihnen entweder noch in den letzten Kriegstagen als Kanonenfutter benutzt wurden. Dann, weil sie verschüttet, verfolgt, bedrängt, bedroht, misshandelt oder vergewaltigt worden sind. Außerdem, weil sie die ganze Zerstörung, dieses ganze Entsetzen mitbekommen haben. Aber auch, weil sie in der einen oder anderen Weise entweder Mittäter waren oder weggeguckt haben oder von ihren Eltern dasselbe wussten.« Eine ganze Generation stand damals unter dem Generalverdacht, im günstigsten Fall kollaboriert zu haben. »An diesen Generalverdacht gewöhnst du dich irgendwann mal. So lebst du dann mit so einer Schuld.«
Die Beispiele machen deutlich, unter welchem Druck die damalige Gesellschaft stand. Wie sehr gestrebt und gebaggert wurde. Wie fleißig man damit beschäftigt war, das Vergangene zu begraben, wie groß die Angst vor etwas Neuem, Unbekanntem war. Kein Wunder, dass das schwächste Glied in dieser Kette, das Kind, Zorn und Frust abbekam. Und darauf getrimmt wurde, so anpassungsfähig wie nur möglich zu werden. Es musste einfach gehorchen, dachten sich die damaligen Eltern. Was denn sonst? Etwas anderes kannten sie nicht. Wer weiß, wie die neue Zeit verlaufen würde. Rebellion, Ungehorsam, Zorn gegen die Obrigkeit – dies alles hatten sie nicht gelernt, konnten es deshalb auch nicht an ihre Kinder weitergeben. Und so verwundert es nicht, dass laut Umfragen aus der damaligen Zeit »Gehorsam« als Erziehungsziel in den 50er und 60er Jahren weitaus mehr Zustimmung in der Bevölkerung fand als das Erziehungsziel »Freiheit«.
Der Kinderschutzbund – eine erste öffentliche Reaktion
So heftig wurden Kinder in vielen deutschen Nachkriegsfamilien misshandelt, wurde ihnen Gehorsam und Benehmen eingebläut, dass sich im Jahr 1953 in Hamburg eine Gruppe engagierter Pädagogen und Kinderfreunde aus Protest hiergegen zusammenschloss und den noch heute existierenden »Kinderschutzbund« ins Leben rief. Die Gründe für diesen Schritt wurden in einer späteren Jubiläumsbroschüre erklärt: »Es war die Zeit, in der die Deutschen die Wirren des Zweiten Weltkrieges zu überwinden suchten, eine enorme Wohnungsnot beklagten, über die Hälfte aller Familien unvollständig war und besonders unter den Kindern immer noch große Verunsicherung und Elend herrschte.« Lebensumstände, die einen erheblichen »Missbrauch der elterlichen Sorge« nach sich zogen. Dieser Missbrauch äußerte sich in übermäßiger Züchtigung der Kinder bis hin zu deren körperlicher und seelischer Misshandlung und Vernachlässigung in Pflege, Aufsicht und Erziehung. Als Mittel gegen Gewalt und Pflichtverletzungen gegenüber Kindern sollte deshalb, nach Ansicht der Kinderschutzgründer, eine harte Bestrafung der Täter eingeführt werden.
5. Kapitel
FLASHBACKS UND IHRE VORGESCHICHTE
Das Geräusch eines schnalzenden Ledergürtels
Wer in einem gewalttätigen Elternhaus groß geworden ist, der muss oft noch im Alter mit den Erinnerungen kämpfen. Die ihm, wie eine Art Flashback, wie eine blitzartige Erinnerung an eine vergangene unangenehme Situation, wieder ins Gedächtnis rücken. Ungewollt, überraschend und oft gerade dann, wenn derjenige damit überhaupt nicht rechnet. Wie bei Fritz, der kürzlich ein Geräusch hörte, das ihn zusammenzucken ließ. Irgendwo im Nebenzimmer zog eines seiner drei Kinder mit Schwung einen Ledergürtel aus dem Hosenbund. Dabei entstand so ein, wie er es nennt, »schnalzendes Geräusch«. Was ihn aufhorchen ließ, ihn zutiefst irritierte. Als dies noch einmal passierte und er wiederum nicht wusste, warum dieser aus dem Hosenbund herausgezogene Gürtel ihn derart zusammenzucken ließ, hat er sich bei seiner Mutter erkundigt, ob der Vater ihn oder seine Geschwister eigentlich mit dem Gürtel geschlagen habe. Die 73-Jährige räumte zwar zunächst ein, ja, der Vater tat dies gelegentlich. Doch ein Jahr später, als das Gespräch erneut hierauf kam, stritt sie es ab.
Fritz allerdings hat die Schläge längst nicht vergessen, die er von seinen Eltern bekam. Vor allem die nicht, die mit dem Holzlöffel verabreicht wurden. Woran sich seine Mutter partout nicht mehr erinnern will. Sie gibt heute
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