Die geprügelte Generation
hin zur Gewalttätigkeit den Kindern gegenüber gab. Das mag hin und wieder vorgekommen sein, schließt sie nicht aus. Aber eigentlich sieht sie ein ganz anderes Problem, das sie an einem Beispiel verdeutlicht:
»Ich sehe einen Vater, der in der Gefangenschaft war, und der so furchtbar gehungert hat, dass er immer wieder erzählt, sie hätten dort einmal eine Pflaume gekriegt und sich dann gestritten, wer kriegt das Fruchtfleisch und wer kriegt den Kern. Und natürlich war der Kern das Begehrtere, weil man da solange drauf rumlutschen konnte. In dieser Familie passierte folgendes: Die Tochter war ein leicht zu lenkendes Kind, ganz brav, lieb. Aber das Kind mäkelte am Essen. Und in regelmäßigen Abständen rastete der Vater aus, griff zum Stock und prügelte sie durch.«
Das Kind hat nicht gewusst, warum ihr Vater so wütend wurde. Dem Vater war dies womöglich auch nicht klar. Und erst als Sabine Bode im Gespräch mit dieser längst erwachsenen Frau erfuhr, dass der Vater immer nur beim Essen derart in Zorn geriet, stellte sie den Zusammenhang mit der Kriegsgefangenschaft her, wies die Tochter darauf hin, dass sie ihr zuvor erzählt habe, wie klapperdürr der Vater aus der Gefangenschaft gekommen sei und wie er sich mit einem Mithäftling um eine Pflaume gestritten hatte. Erst da sah die Tochter zwischen ihrer Mäkelei ums Essen und dem ausrastenden Vater einen Zusammenhang. Erst da wurde klar, dass der Vater offenbar an einer Art Hungertrauma litt, nicht aushalten konnte, wenn seine Tochter Essen zurückwies. Durch diese Traumatisierung war es für den Vater extrem bedrohlich mit anzusehen, wenn im Essen herumgestochert wurde. »Wer weiß, was er alles angestellt hat, um nicht zu verhungern«, fragt sich der Kölner Psychotherapeut Martin Stokowy, dem ich dieses Beispiel schilderte. »Wem hat er was weggenommen? Was hat er für einen einzigen Bissen alles tun müssen? Und nun will er seineTochter genau vor einer solchen Gefahr schützen, prügelt sie durch und durch und kann nicht aufhören.«
Für Traumatherapeut Arne Hofmann besteht schon ein direkter Zusammenhang zwischen Kriegserlebnissen und dem späteren Verhalten der Heimkehrer ihren Familien, ihren Kindern gegenüber. Die damals aus Krieg oder Gefangenschaft zurückgekehrten Soldaten waren als 18-, 20- oder 30-Jährige in die Wehrmacht eingezogen worden. Zuvor hatten sie gelernt, dass man sich im Zusammenleben mit anderen verständigen muss, freundlich sein sollte, dass soziales Verhalten gefragt war. Dann plötzlich lernten sie die Brutalität eines Vernichtungskrieges kennen. »Die sind zurückgekommen und haben eigentlich nur gewusst, man muss sich durchsetzen, man muss Gewalt anwenden, um überhaupt zu überleben.«
Das Wunder von Bern
An ihre neue Umgebung in dem sich demokratisierenden Westdeutschland konnten sich die Kriegsheimkehrer nur schwer anpassen. In dem Film »Das Wunder von Bern« werden diese Schwierigkeiten an einem simplen Beispiel sehr plastisch dargestellt. Der kleine Sohn liebt sein Kaninchen über alles, der Vater schlachtet es. »Dieser Vater«, so Traumatherapeut Hofmann, »ist noch immer geprägt von einer Durchsetzungsmentalität, während sein kleiner Sohn eine Beziehung zu einem Kaninchen aufgebaut hat. Der Vater schlachtet nun dieses Kaninchen brutal. Einfach, weil es ums Überleben geht, da muss was gegessen werden und zack, ist das Kaninchen weg. Ob das Kind eine Beziehung zu dem Kaninchen aufgebaut hat, spielt überhaupt keine Rolle.« Psychotherapeut Stokowy glaubt freilich, dass der Vater dies aus reiner Fürsorglichkeit dem Sohn gegenüber tat. Um eine Lektion an ihn weiterzugeben, die er selbst bitter lernen musste: »Sohn, bindedich nicht zu eng an Lebewesen, bleib auf Abstand, schütze dich vor Verlusten.«
Für Hofmann ist dies jedenfalls eine Ur-Szene, um die Elterngeneration der 50er und 60er Jahre überhaupt zu verstehen. »Wir wissen heute, dass Soldaten, die aus Afghanistan und aus Irak zurückkehren, ganz häufig häusliche Gewalt verüben,« erklärte mir Hofmann. »Dass es enorm viele Scheidungen und Trennungen gibt, weil die Frauen sagen, ich kenne diesen Mann nicht, der da zurückgekommen ist. Das ist nicht der Mann, den ich geheiratet habe. Und ich vermute, in den 50er Jahren ist mit der Rückkehr der Gefangenen was ganz Ähnliches passiert. Natürlich war das Ideal damals, man trennt sich nicht. Aber es gab große Entfremdungen. Viele der Anpassungsleistungen an die neue Zeit hatten die Frauen
Weitere Kostenlose Bücher