Die geprügelte Generation
Genesis. Die ersten fünf Bücher Moses. Da haben wir mit Vaterproblemen genug zu tun. Wir können gerne darüber ein bisschen philosophieren. Aber wenn du willst, dass ich wirklich über uns, über dich und mich mit dir spreche, dann musst du dich warm anziehen. Daraufhin hat er nachgedacht, hat mich angeguckt und hat so nach einer Viertelstunde gesagt: Exegese der Genesis.«
Seit langem fühlte Tilman Röhrig sich da schon gestärkt, wusste genau, dass die Jahre, in denen er sich nur auf sich gestellt durchgeschlagen hatte, seine Rettung gewesen sind. »Aus ihnen schöpfte ich Kraft und Selbstvertrauen, so schrecklich sie teilweise auch waren. Aber ich bin viel weitergekommen, trotzdem. Dieses ›trotzdem‹ ist etwas, was die gebrochenen Helden in meinen Büchern mit mir gemeinsam haben. Ich bin in jedem dieser Bücher irgendwo drin. Und es kann ja niemand lachen, niemand weinen, ohne dass das nicht durch mein Herz hindurchgegangen ist.«
Zu seinem Vater hat er nie Nähe entwickeln können. Es herrschte zwischen ihnen lediglich eine Art Waffenstillstand. »Ich habe meinen Vater nicht angegriffen, ihn nicht mehr gehasst. Meine große Leistung war es wirklich, ihn existieren zu lassen. Auch einzusehen, dass ich nicht das Recht habe, sein Leben zu zerstören, nur weil er versucht hat, meins zu zerstören. Das war ein schweres Stück Arbeit. Vor allen Dingen, weil es nachher so leicht gewesen wäre, den Vater zu vernichten. Denn alle Welt sprach ihn auf mich, den Schauspieler Tilman Röhrig an, den Sohn, dem er eine so düstere Zukunft prophezeit hatte.« Damals konnte er seinen Vater einfach lassen. Hat ihn nicht mit Vorwürfen konfrontiert, ihn nicht niedergemacht. »Vielleicht, weil ich dann letztlich zuviel Schuld auf mich geladen hätte. Vielleicht aus Angst davor, von einem strafenden Gott hierfür zur Rechenschaft gezogen zu werden. Wer weiß! Ich wollte in meinem Leben so eine Art Sackbahnhof für Hass bauen. Ein Bahnhof, aus dem – egal wie viel Hass dort reingefahren würde – kein Zug mit Hass mehr rausfahren darf.«
Später erst näherte er sich seiner wirklichen Mutter an. Der Frau, die ihm ständig als negatives Beispiel von Stiefmutter und Vater vor Augen geführt worden war. »Meine richtige Mutter, die uns Kinder verlassen hatte, war mit einem Professor der Theologie weggegangen. Mit dem hatte sie einen Sohn. Ich habe sie, nachdem ich sie als Erwachsener wieder getroffen hatte, dann als meine Mutter betrachtet. Je älter sie wurde, desto klarer trat zutage, wie viel Egoismus dahinter gestanden hat, fünf Kinder im Stich zu lassen. Etwas, was ich natürlich nie begriffen habe. Ich musste lernen, das hinzunehmen, einzuordnen. Und so habe ich sie begleitet bis zu ihrem Tod. Meine Geschwister wollten nichts mit ihr zu tun haben. Wie ein Vertreter habe ich bei ihnen für diese Frau geworben. Weil ich ihr das Geschenk machen wollte, dass sie zumindest einmal alle Kinder sehen würde. Was mir dann auch gelungen ist. Einige sind dann häufiger auch zu ihr und haben mit ihr eine Verbindung aufgebaut. Sie hat sicherlich kein leichtes Päckchen auf sich genommen, indem sie einmal ihrem Gefühl nachgegeben hat und diesem Mann gefolgt ist. Eine Zeit lang war sie sicherlich mit ihm glücklich. Aber dann ist dieser Mann, wegen dem sie uns verlassen hatte, sehr krank geworden. Geistig sehr krank. Der war wohl in der Internierung und hat da Schäden abbekommen. Sie hat ihn gepflegt. Danach hatte sie ein Leben voller Aufopferung. Und sie hat ihr späteres Leben lang gebüßt dafür, dass sie fünf Kinder im Stich gelassen hat. Sie hat sich nie gegen dieses neue Schicksal aufgelehnt, weil sie sagte, ich habe so viel Unheil angerichtet, dass ich das jetzt durchstehen will.«
Thoms Bericht und die Folgen
Anfang der 70er Jahre erschien »Thoms Bericht«. Ein Buch, das viele Menschen berührte, die ebenfalls so wie der fiktive Thom als Kind misshandelt worden waren. Er habe dieses Buch deshalb geschrieben, erklärt Röhrig während unseres Gespräches, »weil ich natürlich aus der Psychologie weiß, dass es nicht hilft, wenn man glaubt, man sei ganz alleine mit seinem Kummer, nur mir gehe es schlecht. Dann erscheint so ein Buch, und plötzlich steht man da und erfährt, nein, nein, ich bin nur einer von vielen. Damit erkennt man, dass es höchste Zeit ist, endlich aus seinem Selbstmitleid herauszukommen. Denn das ist ja das Tödliche, dieses Selbstmitleid. Das ist ein Grund, warum Thoms Bericht auch so erfolgreich
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