Die geprügelte Generation
ist. Weil es hilft, sich hieraus zu befreien. Ich weiß nicht, wie viel Hunderte von Briefen ich in meinem Leben bekommen habe, von Leuten die sagten, ich habe das Buch gelesen, ich bin auch so ein Thom, und dann reden eine Frau oder ein Mann vielleicht zum ersten Mal über das, was war. ›Thoms Bericht‹ ist, wenn man so will, ein Lockbuch. Das heißt, es lockt oder verlockt andere dazu, über diese Sache nicht nur nachzudenken, sondern sie auch weiterzugeben. Und auch zu erzählen. Denn dieses Loswerden durch Sprechen ist sehr hilfreich.«
Tilman Röhrig hätte sich so sehr Eltern gewünscht, auf die er hätte stolz sein können. Das war ihm nicht vergönnt. Die Eltern, die er nun mal hatte, betrachtete er immer nur mit gemischten Gefühlen. War stets damit beschäftigt, das, was sie ihm in der Kindheit angetan hatten, zu vergessen, ihnen zu vergeben, sie später nicht bloßzustellen, anzuprangern. Doch sein Wunsch nach einem Vater, den er einfach nur lieben konnte, führte zu absurden Situationen.
»Sobald jemand meinen Vater von außen angriff, so etwas sagte wie, dein Vater ist doof, prügelte ich mich leidenschaftlich für meinen Vater. Das ist ja das Paradoxe. Dieses Kind, das gestraft wird, verteidigt noch das schlechteste Elternhaus. Einfachweil es diesen Halt der Familie so gerne haben möchte. Und genau so gab es natürlich Momente, in denen bei uns gelacht wurde. In so einem Augenblick liebte man plötzlich und überliebte man letztlich den Vater und auch die Familie. Einfach nur, weil man plötzlich das Gefühl hatte, geborgen zu sein. Etwas, nachdem man sich so sehr sehnte. Später hat das dazu geführt, dass ich, sobald jemand freundlich zu mir war, diesen Menschen mit meiner Zuneigung regelrecht überschüttete und ihm damit gleichzeitig die Luft nahm, ihn tötete. Soviel angehäufte Liebe, die man plötzlich geben wollte, konnte der andere gar nicht aushalten. Daran zerbrach dann alles.«
All das, was ihm als Kind widerfuhr, verursachte bei ihm Bindungsangst und die ließ Bindungsflucht entstehen. Eine Angst davor zurückgestoßen zu werden, weil man zu sehr liebt. »Dieses Gefühl hat mich in den entscheidenden Jahren meines Lebens dazu gebracht, lieber wegzugehen, als die Liebe wirklich zu erkennen und anzunehmen. Heute habe ich das längst eingeordnet, kann Liebe annehmen. Nein, ich habe keine Kinder und habe viele Ausreden gefunden in meinem Leben, warum ich das nicht wollte. Letztlich aber hat mir der Mut zu Kindern gefehlt. Aus dieser Geschichte heraus. Weil ich einfach zu viel wusste vom Schiefgehen. Ich denke schon, es hat mit den Schlägen und eben auch mit diesen seelischen Strafen zu tun.«
7. Kapitel
WARUM, WIESO, WESHALB?
Schläge aus Liebe und Fürsorglichkeit
Die Thesen der US-amerikanischen Psychologin und Bindungsforscherin Patricia Crittenden beunruhigten mich. So ganz konnte ich ihnen nicht folgen. Ihre Erklärungen dafür, warum Kinder damals in so vielen Familien verprügelt wurden, stießen bei mir auf entschiedenen inneren Widerstand. Ich wollte und konnte nicht akzeptieren, dass Eltern dies aus Liebe und Fürsorge, ja aus Angst davor getan haben sollen, ihren Kindern könne sonst etwas noch viel Schrecklicheres geschehen.
Obwohl ich dies aus eigener Erfahrung, aber auch nach den von mir geführten Interviews nur schwer als Erklärungsversuch akzeptieren kann, haben mich ihre Thesen fasziniert. Sie bieten eine so ungewohnte Begründung für familiäre Gewalt, dass ich sie hier wiedergeben möchte. Vielleicht bin ja auch nur ich im Widerstreit mit Crittendens Erklärungsmodell für Gewalt in Familien. Vielleicht hat sie recht mit den Schlüssen, die sie aus ihrer jahrzehntelangen Forschung zum Thema Gewalt zieht. Vielleicht kann nur ich mir einfach nicht vorstellen, dass wir Kinder der 50er und 60er Jahre aus lauter Sorge und Liebe derart geschunden wurden. Dass unsere Eltern es tatsächlich, so wie sie immer behauptet haben, nur gut mit uns meinten. Denn die mit Hilfe von Handfegern, Kochlöffeln, Teppichklopfern, Reitgerten, Peitschen und Rohrstöcken verabreichten Hiebe fühlten sich meiner Erinnerung nach so gar nicht nach Zuwendung und Zuneigung an. Doch die Angst der Eltern, die laut Crittenden dahintersteckte, wurde uns auch nicht vermittelt. Die bekamen wir nicht mit. Nur Wut, Aggressivität, Ungerechtigkeit – das alles spürten wir sehr wohl.
Für Patricia Crittenden war die Generation der damaligen Eltern nicht wütend, sondern ängstlich. Ihrer Erfahrung
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