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Die geprügelte Generation

Die geprügelte Generation

Titel: Die geprügelte Generation Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingrid Müller-Münch
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auf vielfältige Art gequält und gebrochen werden. Am offensichtlichsten und meistens gut spürbar sind Schläge und Ohrfeigen, ist die körperliche Gewalt. Eine andere Möglichkeit, Kindern das Vertrauen zu nehmen, sie zu verstören, kommt auf leisen Sohlen angeschlichen. Es ist der Psychoterror, der in Familien ausgeübt werden kann. Der Liebesentzug. Der wegen Nichtigkeiten verhängte Hausarrest. Das bestrafende Schweigen. Viele der damaligen Eltern schlugen ihre Kinder nicht nur, wann immer es ihnen passte. Sie demütigten sie auch, stellten sie vor anderen bloß, beschämten sie. Tilman Röhrig hat dies eindrucksvoll geschildert.
    Auch die 52-jährige Theresia ist ein Beispiel dafür, dass nicht nur Schläge, sondern auch seelische Grausamkeiten ein Kind beinahe zerbrechen können. Sie lebt heute in einem wunderschönen Haus, alleinerziehend mit einem pubertierenden Sohn, geht ganz in ihrem Beruf als Bildhauerin auf. Ihre Eltern waren ebenfalls Künstler. Beide waren sehr mit sich beschäftigt, kümmerten sich so gut wie gar nicht um sie, erwarteten, dass ihre Tochter allein für sich in ihrem Zimmer spielte und zwar möglichst leise. Dadurch vermittelten sie ihrer einzigen Tochter immer wieder das Gefühl zu stören, überflüssig zu sein. »Ich kam mir unerwünscht vor. Weil mir eben oft gesagt wurde, ich sei zu laut. Ich mache zu viel Unordnung oder zu viel Remmidemmi. Das vertrage meine Mutter nicht. Oder meine Großmutter hat immer gesagt, ich müsse meine Ferien bei ihr verbringen, weil ich die Ehe meiner Eltern störe. Wenn meine Eltern sich stritten, dann immer nur meinetwegen. Ich sei der Anlass für Unfrieden.«
    Theresia verbrachte deshalb viel Zeit draußen auf der Straße. Dort hatte sie Spielkameraden, was ihr als Einzelkind sehr gefiel. »Also in den 60er Jahren konnte man sehr gut in den Ruinengrundstücken spielen. Das war sehr lustig. Man hatte immer die Hoffnung, einen Blindgänger zu finden.«
    Zuhause hingegen gab es so recht keinen Platz für sie. Eine Situation hat sie nicht vergessen, in der sie sich traurig fühlte, verletzt und ungeliebt. Sie war etwa fünf Jahre alt, schätzt sie. Und hatte wieder einmal ihre Ferien bei der Oma verbracht, »weil meine Eltern immer gerne allein verreisen wollten.« Als sie wieder nach Hause kam, freute sie sich unbändig. Und obwohl sie ansonsten ein eher stilles, in sich gekehrtes Kind war, brach diese Freude regelrecht aus ihr heraus. Sie kletterte voller Überschwang auf den Kleiderschrank in ihrem Kinderzimmer und sprang von da aus mit einen lauten »Juhu« auf ihr Bett. Mehrmals hintereinander. Woraufhin die Tür aufging, ihr Vater das Zimmer betrat und sagte: »Du musst leise sein, deine Mama ist es nicht mehr gewöhnt, ein Kind zu haben.« Theresia weiß noch genau, wie ihr diese Worte »wahnsinnig in den Magen gefahren sind, weil ich plötzlich dachte, ich werde womöglich wieder weggeschickt, wenn ich zu laut bin.«
    Sie wurde in ihrer ganzen Kindheit das Gefühl nicht los, »ich bin irgendwie nicht richtig. Also ich kann nie so sein, dass es richtig ist. Ich wusste nicht genau, wie das sein sollte, aber es kam mir immer so vor, als würde ich es einfach nicht schaffen.« Bei ihrer strengen Großmutter wusste sie eher, wie sie sich zu verhalten hatte. Die ließ nämlich keinen Zweifel daran, was genau sie von ihrer Enkelin erwartete. »Bei der war das leichter zu begreifen. Die warf mir immer vor: Warum bist du denn nicht so wie das Nachbarskind, das ist so lustig. Lach du doch auch mal. Damit konnte ich was anfangen. Wusste, hier ist jetzt Lachen angesagt. Aber bei meinen Eltern wusste ich nicht wirklich, was ich eigentlich machen sollte, damit ich so wäre, wie sie es gerne gehabt hätten.«
    Ihre Eltern unternahmen einiges, um die Tochter aus dem gemeinsamen Leben auszuschließen. Beide hatten genug mit sich selbst, mit ihrer schwierigen Beziehung zu tun. Zündstoff gab es reichlich. Vater und Mutter waren Emigranten. Die Mutter kam aus Russland, war 1917 vor den Kommunisten geflohen. Während des Naziregimes schlug ihr Herz eher »auf Hitlerseite. Weil diese russischen Emigranten, die damals in Russland reich oder wenigstens wohlhabend waren, sich erhofften, dass Hitler die Kommunisten verjagt. Dann können wir wieder zurück auf unsere Güter, dachten Leute wie meine Mutter.« Theresias Vater war Jude, 1938 vor den Nazis aus Ungarn geflohen, hatte mit seinen Eltern in der Schweiz überlebt. Dort, wohin er seine Tochter immer zur

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