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Die geprügelte Generation

Die geprügelte Generation

Titel: Die geprügelte Generation Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingrid Müller-Münch
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ins Kino, irgendwann fängt man dann doch an zu denunzieren, um das Leben an sich führen zu können. Und dadurch unterband sie natürlich auch das Verbandeln der Geschwister, dass die Kinder wirklich eine einheitliche Machtgruppe wurden in der Familie.«
    Irgendwann fiel den Kindern auf, dass sie fast alle Hausarbeit zu erledigen hatten. Außer Kochen tat die neue Mutter so gut wie nichts. »Wir mussten bohnern, Schuhe putzen, Tisch decken, Kartoffeln schälen, Betten beziehen, wir mussten waschen. Wenn man aus der Schule kam, war erst mal zwei Stunden Hausarbeit angesagt. Für jeden. Daraufhin haben wir uns überlegt, bestimmte Hausarbeiten könnten auch vormittags mal von ihr gemacht werden, damit wir nachmittags ein bisschen mehr Zeit für die Schularbeiten hätten.« Also nahmen sich die Kinder vor, mit ihr darüber zu reden. Doch bevor es dazu kam, »sie ahnte wohl schon etwas«, erhöhte sie einigen der Kinder das Taschengeld. Tilman Röhrig war nicht unter diesen Glücklichen. »Und als es dann wirklich zur Aussprache kam, stand ich als einziger da und sagte, das geht doch nicht und beschwerte mich.« Woraufhin ihm seine Geschwister in den Rücken fielen und meinten, wieso, was ist denn los, was hast du zu meckern?
    Röhrig wird nie vergessen, unter welchem Druck, welchem Zwang sein erster Kontakt mit Literatur stattfand. »Ich war sehr aufmüpfig in den Augen meines Vaters, und deshalb musste ich diesen Riesenschinken
Der Vater
von Jochen Klepper lesen.« JedenAbend zitierte sein Vater ihn dann zu sich. Stehend vor dessen Schreibtisch musste der kleine Tilman Rapport über die Kapitel geben, die er gelesen hatte. »Diese Lektüre war für mich in diesem Moment wie eine Peitsche – wenn man so will.« Gleichzeitig aber rettete ihn andere Literatur, auch vor diesem Vater. Sobald er ein Buch zu fassen bekam, zog er sich in eine Ecke zurück »und war weg« aus dieser Welt. Tauchte ab in die Welt eines Theodor Storm oder eines Wilhelm Rabe. Und des Nachts, im gemeinsamen Zimmer mit seinen Geschwistern, brauchte er nichts weiter als »die berühmte Taschenlampe mit Dynamo, die man unter der Bettdecke ununterbrochen mit der Hand drücken musste, um sie am Leuchten zu halten. Die war so mein Werkzeug, um weiterlesen zu können.«
    Wenn er von seinem Vater die Erlaubnis zu irgendetwas bekommen wollte, überlegte er sich schon nachmittags, was er tun könne, um ihn milde zu stimmen. »Da es im Garten immer etwas zu tun gab, setzte ich mich hin und holte jedes kleinste Unkraut aus unserem blöden Steingarten, und das erste was ich dann abends machte, war meinen Vater zu holen. Schau mal, was ich hier gemacht hab. Und er lobte mich. Daraufhin fragt man dann, ob er mir dies oder jenes erlaube. Woraufhin ich zur Antwort bekam, das muss ich mir überlegen. Also wusste ich, es reicht ihm noch nicht. Ich erkundigte mich, was ich denn sonst noch tun müsse. Und dann kam, ja, wenn du dann auch noch eine zwei in der Mathe-Arbeit hast. Dann, ja, dann wirst du das bekommen. Was natürlich unerreichbar für mich war. Also wusste ich, dies schaffe ich niemals.«
    Fluchgebete auf den despotischen Vater
    Bei Tilman Röhrig dominierte das Gefühl, nicht geliebt zu werden. Er hat sich in dem streng protestantischen Pfarrershaushalt mit Vater und Stiefmutter und zahlreichen Geschwistern immer nur als geduldet betrachtet. Und musste sich, so empfand er es,dieses Geduldetsein auch noch verdienen. Durch braves Verhalten, durch Angepasstsein, durch verlogenes Einschmeicheln. Zerbrechen, nein, da war er sich schon damals sicher, konnten ihn die Schläge nicht. Aber gezeichnet haben sie ihn.
    »Zu Hause gab ich immer mehr Widerworte«, lässt Tilman Röhrig seinen Romanhelden Thom erzählen. »Meine Eltern sagten, ich sei ins Flegelalter gekommen. Mein pickeliger Bruder schimpfte mich ›Halbstarker‹. Dabei war ich wirklich nicht frech geworden. Ich fühlte mich immer noch als Sohn meines Vaters, nur hatte ich in letzter Zeit völlig die Angst verloren. Ich wagte, zu Hause meinen Mund aufzumachen. Wenn meine Mutter mir verbot, ins Kino zu gehen, obwohl der Film ab 12 Jahren war, ging ich trotzdem. Mein Vater merkte, dass Schläge nicht mehr so viel Eindruck auf mich machten, und verlegte sich aufs Reden.« So die Fiktion.
    Röhrig vermutet rückblickend, dass er sich so ab dem achten Lebensjahr zu wehren begann. Zunächst, indem er Widerworte gab. Später dann, indem er fluchend einfach wegging. »Ich habe ganze Fluchgebete auf meinen

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