Die geprügelte Generation
nachschlagen Eltern ihre Kinder dann am häufigsten, wenn sie selbst große Angst davor verspüren, ihre Kinder könnten etwas falsch machen. »Sie haben die Vorstellung, dass, wenn ihr Kind etwas falsch macht, es sich verletzen könnte. Etwas falsch zu machen könnte schlimme Konsequenzen nach sich ziehen. Deshalb strafen Eltern ihr Kind, damit es lernt, sich richtig und damit sicherer zu verhalten. Je gefährlicher die Situation ist, in der sich die Kinder aus Sicht der Eltern befinden, desto härter und häufiger fallen die körperlichen Züchtigungen aus. Sobald Gefahr aufzieht, werden Eltern immer strenger.« Dies alles schilderte sie mir während eines in Englisch geführten Interviews.
Diese deutsche Nachkriegsgeneration, die in den 50er und 60er Jahren Eltern wurden, hatte unter den Nazis gelernt: Wenn du etwas falsch machst, bezahlst du das möglicherweise mit dem Leben. Wenn du der falschen Person das Falsche sagst, wenn du zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort bist, konnte das gefährlich werden. Die Gefahr lauerte überall. »Es war einfach eine sehr gefährliche Zeit, in der diese Eltern aufgewachsen sind. Und vor diesen Gefahren wollten die Eltern ihre Kinder schützen. Mit Strenge und mit Gewalt. Im Zweiten Weltkrieg und im ›Dritten Reich‹ durfte man einfach keinen Fehler begehen, die Folgen konnten verheerend sein«, so Crittenden. Diesen Druck, unbedingt richtig handeln zu müssen, sich keinen auch noch so kleinen Fauxpas leisten zu dürfen, haben die damaligen Eltern nahtlos über den Zweiten Weltkrieg in die neue Bundesrepublik gerettet.
Ende der 90er Jahre hat Crittenden mehr als hundert deutsche Männer und Frauen im Alter zwischen 19 und 81 Jahren über ihre Kindheit befragen lassen. Ihr ging es darum zu erfahren: »Was geschah, wenn du abends ins Bett gegangen bist? Erzähl mal, was passierte, wenn du dich verletzt hattest? Wie lief es ab, wenn du krank warst?« Die Antworten haben die erfahrene Bindungsforscherin regelrecht »geschockt«. In keinem anderen Land, weder in Großbritannien noch in Norwegen, Finnland oder Italien, in denen sie ähnliche Interviews führen ließ, stieß sie auf ein solchesAusmaß familiärer Gewalt und damit einhergehender Traumatisierung der befragten Personen.
Crittenden musste feststellen, dass die Antworten ihrer Interviewpartner völlig anders ausfielen, als sie es erwartet hatte. Auf die Frage zum Beispiel, wie das Zubettgehen ablief, hatte sie gedacht, nun werde erzählt, man putzte sich die Zähne, dann kam die Mutter und las noch eine Geschichte vor. Stattdessen folgte häufig: Der Vater brüllte herum und wenn nicht alle parierten, zog er den Gürtel aus dem Hosenbund und schlug zu. »Doch die Gewalt, über die meine Interviewpartner sprachen, war keine Gewalt, die von außen in die Familien hereingetragen worden war. Sondern Gewalt zwischen den Eltern, Gewalt der Eltern den Kindern gegenüber. Es war schockierend, in welcher Häufigkeit dies vorkam«, so Crittenden in unserem Gespräch.
Viele der interviewten Personen wirkten auf sie regelrecht traumatisiert. Dabei stellte sie ein eigenartiges ihr bislang unbekanntes Phänomen fest, für das sie extra eine neue Bezeichnung suchen musste. Sie nannte es das »Vicarous-Trauma«, das »Stellvertreter-Trauma« und beschreibt es so: »Die Kinder hatten das Kriegstrauma ihrer Eltern quasi für sich übernommen. Sie wussten zwar nicht, woher und wodurch ihre Eltern traumatisiert worden waren, da hierüber nicht ausdrücklich gesprochen wurde. Aber das bei ihnen festgestellte Trauma rührte nicht aus dem her, was der Interviewte selbst erlebt hatte. Er war nicht im Krieg angeschossen worden, hatte nicht unter Hungersnöten gelitten. Die Eltern hatten dies erlebt, und das Kind durchlebte das Trauma der Eltern, als wäre es sein eigenes.«
Crittenden weiß aus ihrer langjährigen Erfahrung, »dass Eltern ihre Kinder beschützen wollen, egal wie gewalttätig sie sich dabei geben. Da sie aber nicht über die Gefahren sprechen, die sie selbst erlebt haben und vor denen sie ihre Kinder zu schützen versuchen, bleibt bei den Kindern die Frage zurück: Was habe ich falsch gemacht, dass meine Eltern sich so verhalten? Dabei tut die Mutter, tut der Vater dies nur deshalb, weil er selbst etwas erlebthat, über das er aber nicht sprechen will. Das Kind kann die Verbindung zwischen den Schlägen und dem was die Eltern erlebt haben, einfach nicht herstellen.«
Stubenarrest und Sprachlosigkeit
Kinderseelen können
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