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Die geprügelte Generation

Die geprügelte Generation

Titel: Die geprügelte Generation Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingrid Müller-Münch
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strengen Familienauflagen verstoßen hatte, wurde der Vater sauer und strafte sie zunächst mit Schweigen, verschloss hinter sich die Zimmertür. Fünf Minuten lang fühlte sich Theresia im Recht, länger hielt sie nicht durch. Dann wollte sie, dass ihr Papa wieder lieb mit ihr ist. Sie klopfte an seine Tür, trat in den Raum und sagte: »Papa, bitte, bitte, sei wieder lieb. Es tut mir leid.« Doch der brühte das Geschehene nun ganz genüsslich erneut auf. »Der ganze Sermon ging von vorne los. Er sagte, jetzt siehst du ja ein, was du Schlimmes gemacht hast. Ich wurde noch mal mit der Nase in den Dreck gestupst. Nicht nur gestupst, sondern gedrückt und gewühlt. Und ich hatte einfachdas Gefühl, es gibt kein Entrinnen. Wenn ich also schweige und mich nicht entschuldige, bin ich böse. Wenn ich mich entschuldige geb ich zu, dass ich böse bin. Und nie ist es gut.«
    Um die Tochter ihren Ansprüchen anzupassen, hatten sich die Eltern etwas ausgedacht, was sie offenbar für gerecht und angemessen hielten. Statt sie wegen einer Ungezogenheit direkt zu bestrafen, gab es eine Art »Gerichtsverhandlung«. Die spielte sich so ab: Theresia, die oft tagsüber, wenn die Mutter arbeitete, mit dem Vater allein zuhause war, hatte etwas getan, was sie nicht durfte. »Also in die Hose gemacht oder ich war zu laut gewesen. Dann hat mein Vater gesagt, wir müssen auf die Rückkehr der Mutter warten.« Kam die Mutter nach Hause, zogen sich ihre Eltern gemeinsam zu einer Art Beratung zurück. Theresia stand vor der geschlossenen Zimmertür, hinter der die sogenannte »Gerichtsverhandlung« stattfand. »Und dann wurde das Urteil verkündet: zum Beispiel zehn Schläge auf den Po, mit einer Decke drauf. Oder zehn Schläge auf den angezogenen Po. Oder zehn Schläge auf den ausgezogenen Po.«
    Damals war sie noch sehr klein. Und das Schlimmste für sie war nicht die ausgesprochene Strafe, war nicht das über sie gesprochene Urteil. »Sondern diese Erwartungsangst.« Die konnte sich einen ganzen Tag lang hinziehen. Falls ihr Vergehen morgens stattgefunden hatte, die Mutter aber erst abends nach Hause kam, »habe ich natürlich Angst gehabt. Den ganzen Tag lang, bis meine Mutter kam. Bis sich meine Eltern zur Beratung über mich zurückzogen.« Sobald das Urteil feststand, wurde Theresia in das zum Gerichtssaal erklärte Wohnzimmer gerufen, ihr die Entscheidung mitgeteilt. »Und ich musste damit einverstanden sein. Ich fürchte, dass mein Wille irgendwann so gebrochen war, dass ich tatsächlich mit dem Urteilsspruch einverstanden war.«
    Theresia fühlt sich immer an allem schuld
    Während die Strafe an ihr vollzogen wurde, während ihr Vater sie schlug, schrie sie meist wie am Spieß. Und hatte stets das Gefühl, sie werde nun umgebracht. Obwohl die Schläge selbst gar nicht so wehtaten. Aber dieses ganze Ritual, das Prozedere, die Angst vorher, das alles führte dazu, dass sie – obwohl sie laut brüllte – die Schläge letztlich regelrecht als Erlösung empfand. »Deswegen war ich immer schnell mit der Strafe einverstanden, weil ich wusste, danach ist es dann vorbei.« Heute, wo sie sich fragt, wie ihre Eltern auf die Idee dieser »Gerichtsverhandlung« gekommen sein mögen, erklärt sie es sich damit, dass ihr Vater sie einfach nicht spontan schlagen wollte. »Nicht irgendwie außer sich vor Wut. Er wollte, dass alles in geregelten Bahnen verläuft.« Ihre Mutter hat ihr später auf ihre Frage, warum der Papa sie immer verhaue, erklärt, der tue das, »weil er dich lieb hat. Weil du böse warst. Damit du ein guter Mensch wirst, muss er dich schlagen. Das tut ihm selbst mindestens so weh wie dir. Also ich habe das so verstanden, dass seine Schläge sein Ausdruck von Liebe und Fürsorge waren.«
    Als erwachsene Frau ist es Theresia immer wieder passiert, dass sie Schläge mit Liebe verwechselte. Mit diversen gewalttätigen Männern hat sie diese Erfahrung gemacht, und es hat lange gedauert und einer Therapie bedurft, bis sie lernte, dass Schläge nichts mit Zuneigung und Fürsorge zu tun haben. Aber die größte Auswirkung aus der psychischen Misshandlung, die sie durch ihre Eltern erfuhr, ist, »dass ich sehr schlecht gelernt habe, Grenzen zu setzen. Also, es fällt mir unglaublich schwer, Nein zu sagen. Es fällt mir auch sehr schwer zu bemerken, dass mir etwas weh tut. Rein körperlich. Ich neige dazu, mit Männern zusammen zu sein, die mich schlecht behandeln. Ich verwechsle Schläge mit Liebe. Inzwischen habe ich zwar gelernt, dass

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