Die geprügelte Generation
die Welt mit wachen Augen und kritischem Geist wahrgenommen. Drei Stundendauerte das Gespräch, bis lange nach Mitternacht. 48 Schreibmaschinenseiten umfasste der abgetippte Text.
Alle halten wir uns an Margots Wunsch, doch bitte nicht über prügelnde Eltern zu sprechen. Das sei zu deprimierend, würde die Laune verderben. Das Thema wird gemieden, ist aber dennoch in der Tischrunde die ganze Zeit präsent. Erst als das Aufnahmegerät ausgestellt ist, kommt plötzlich die Rede wie von selbst auf Senge, Watschen, die sogenannte Tracht Prügel und Ohrfeigen, die allen in der Runde nur zu vertraut sind. Doch da sind wir längst zu müde, hierauf auch noch einzugehen. Herausgekommen ist ein üppiges Erinnerungskaleidoskop, das ein klein wenig dazu beiträgt, die Zeit besser zu verstehen, in der viele unserer Eltern so ungeniert von Rohrstöcken und Schlagriemen Gebrauch gemacht haben. Eine Zeit, die von einigen Eltern als Neuanfang nach der Befreiung von der NS-Diktatur erlebt wurde, von anderen als totaler Zusammenbruch eines vergötterten Regimes.
Es beginnt damit, dass Ellen ein Lied anstimmt: »Dreh Dich nicht um nach fremden Schatten. Dreh Dich nicht um und bleib nicht steh’n …« Caterina Valente, ja klar, wer erinnerte sich nicht. Namen wie der ihres Bruders Silvio Francesco, Peter Alexander, Freddy Quinn schwirren durcheinander. »Oh, für den hab ich geschwärmt«, outet sich Wini und guckt versonnen vor sich hin. Während Henning Chris Howlands Schlagerstunde im Radio einfällt, die er so gern hörte. »Mister Pumpernickel« ruft Ellen dazwischen, so lautete Chris Howlands Spitzname. Dessen Musik war bei Henning zu Hause strengstens verboten. Sobald er sie anstellte, rief sein Vater sofort: »Dreh’ die Affenmusik aus.« Winis Vater sprach bei der Gelegenheit abfällig von »Negermusik«.
Henning glaubt, dass es Bill Haley war, der 1956 mit dem Film »Rock around the clock« den verkrusteten Musikgeschmack jener Zeit aufbrach. Die Reaktionen waren entsprechend: In Bremen rissen sich im November 1956 Jugendliche im Kino bei Vorführungen des Bill Haley-Streifens die Kleider vom Leib undlieferten sich Scharmützel mit der Polizei. In anderen Städten kam es im Gefolge dieses Films zu Unruhen und Straßenaktionen. »Bill-Haleys-Rock’n Roll haben wir unerlaubter Weise immer gesungen. Das war der Bruch mit dem deutschen Schlager«, sagt Henning. Boogie-Woogie ruft jemand – und auf einmal reden alle durcheinander. Begriffe wie Petticoat, Röhrenhosen, Pferdeschwanz, Vespa fallen. Dann erwähnt einer die Beatles, die 1962 in Hamburg zum ersten Mal im »Star Club« auftraten.
Erich, der bis dahin geschwiegen hat, wirft den Namen James Dean in die Runde. »Denn sie wissen nicht, was sie tun«, ergänzt Wini. Doch Erich lässt sich nicht unterbrechen. »James Dean war das Idol. Viele Jungs haben seine Frisur nachgemacht und eine Lederjacke, wie die aus dem Film, gekauft. Sie trugen das, was man heute T-Shirts nennen würde, was damals aber einfach nur Unterhemd hieß«. Margot blickt kurz von ihrem Strickzeug auf, um von einer Schulfreundin zu erzählen, die sich jedes Jahr am Todestag von James Dean eine schwarze Schleife ansteckte. »Die war verrückt nach ihm.«
Trümmerkinder und Wohnungsnot
Es war die Zeit, in der Kinder in den Trümmern der durch Bomben zerstörten Städte spielten. Überall herrschte Wohnungsnot, die noch verschärft wurde durch den Zuzug von Millionen Heimatvertriebener und Flüchtlinge. Einer von ihnen war Henning, der als kleiner Junge kurz nach Kriegsende mit seiner Mutter und seinen beiden Schwestern aus der sowjetischen Besatzungszone geflohen war und eines Tages in Hannover ankam. Sein Vater war schon vorher in der britischen Besatzungszone eingetroffen, hatte ein Zimmer gefunden, das allerdings zu klein war für die ganze Familie. So wurden Hennings zwei Schwestern bei fremden Menschen untergebracht, die sich um die Mädchen kümmerten.
Besser wurde die Situation erst, als die ganze Familie 1952 in eine Neubauwohnung umzog. Die Eltern hatten wochentags keineZeit für die Kinder oder nahmen sie sich nicht. Jedenfalls wurde nach dem Mittagessen eine halbe Stunde für Schularbeiten anberaumt, danach wurden die Kinder auf die Straße geschickt. Mit dem strengen Befehl der Mutter: »Ich will euch erst wieder sehen, wenn die Kirchturmuhr halb sieben läutet«. Bis dahin durften sie sich zu Hause nicht blicken lassen. Soweit er sich erinnern kann, hat Henning nur einmal gegen diese
Weitere Kostenlose Bücher