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Die geprügelte Generation

Die geprügelte Generation

Titel: Die geprügelte Generation Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingrid Müller-Münch
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Zimmer war ein regelrechtes »survival-camp«. Für den oberflächlichen Betrachter sah es ganz normal aus. Aber hinter ihrem Bett hatte sie Lebensmittelreserven gestapelt, ein ganzes Chemielabor gebunkert, vor allem Spiritus und Petroleum. Damit konnte sie sich Lichtquellen basteln.
    »Sobald die Sicherungen herausgedreht waren, ich alleine mit mir war, habe ich angefangen, Licht zu bauen und in mein Tagebuch zu schreiben. Weil ja sonst keiner da war, der sich das ganze Zeugs angehört hätte. Ich hatte auch zwischendurch immer das Gefühl, kann man das irgendjemandem überhaupt erzählen? Es war bei uns ja immer alles super. Wir sahen immer alle ganz klasse aus. Immer nett gekleidet. Immer neue Autos. Und Pferde und alles so in Ordnung.«
    Kein Mensch nahm sie ernst, niemand reagierte auf ihre Klagen
    Als sie vierzehn Jahre alt war, ging sie in ihrer Verzweiflung zur Polizei, zum Jugendamt. Sie schilderte dort, wie es ihr zu Hause erging. Doch nichts geschah. Nur einmal, da ließ sich tatsächlich jemand vom Jugendamt blicken. Machte vorher ordnungsgemäß einen Termin und hat dann die Wohnung besichtigt. »Als die sahen, dass ich ein eigenes Zimmer habe, meinten die, ist doch alles paletti. Das Kind spinnt. Und die Polizei hat mir klipp und klar gesagt, solange du den Kopp nicht unter dem Arm hast, kannst du hier lange stehen. Mein Vater war ja bekannt. Ein anständiger, angesehener Bürger. Da hatte ich nichts zu melden.«
    Dabei sah man ihrem Körper die Misshandlungen deutlichan. Hin und wieder ging sie allein zu ihrem Kinderarzt, zeigte ihm die Wunden, sagte, sie sei von ihrem Vater geprügelt worden. Der Arzt hat sich das alles notiert. »Jedes blaue Auge, alles. Es ist nichts passiert.« Ilka hat ihrer Umgebung immer erzählt, wie es ihr zu Hause erging. So dass sie, wenn die Gewalt eskalierte, sich zu den Eltern von Freundinnen flüchten konnte. »Die zwar auch nichts gemacht haben. Die haben aber wenigstens nicht die Tür zugemacht, wenn ich da auftauchte.«
    Sie fühlte sich geliebt – trotz alledem
    Trotz des brutal ausgefeilten Sadismus, der in ihrer Familie herrschte, hat sich Ilka, so behauptet sie jedenfalls steif und fest, nie ungeliebt gefühlt. »Das ist ganz eigenartig.« Was ihr fehlte, war »menschliche Wärme. Zuneigung.« Sie hätte sich gewünscht, dass ihre Eltern ein bisschen versöhnlicher gewesen wären, ihr mehr verziehen hätten. Doch niemals hatte sie das Gefühl, »hey, die lieben mich nicht. Hab ich nie gehabt. Meine Kombination war eigentlich immer eher, je mehr es kracht, umso besser. Wenn’s nicht kracht, dann stimmt irgendwas nicht. Und das ist eher ein Problem. Weil, das habe ich halt mitgenommen in mein späteres Leben, in meine Beziehungen. Da musste es auch dauernd krachen. Was verdammt anstrengend ist. Du kommst aus so einer Familie raus, und danach müssen dauernd woanders die Fetzen fliegen. Weil, wenn die Fetzen nicht fliegen, spüre ich mich nicht.«
    Auch heute noch ist Ilka eine Kämpferin. In ihrem Beruf als Filmemacherin. Dann, wenn sie auf Reportage ist und durch die Welt reist. So wie sie früher schon war. »Ich war als Kind immer so kriegerisch unterwegs. Die ganze Zeit.« Dabei hatte sie nie das Gefühl, irgendwie böse zu sein. Aufmüpfig ja. Aber böse, nein. »Ich hatte einfach total viel Kawumm. Das hatte ich wirklich. Und als Kind konnte ich das nicht steuern«. Vor diesem Kawumm, vor dieser überschüssigen Energie bekam sie manchmal selbst regelrecht Angst. »Doch das ist vorbei. Davor hab ich keinen Schiss mehr.«
    An einem 14. Mai – da war sie gerade vierzehn Jahre alt – endete für Ilka die Zeit, in der sie sich zu Hause widerspruchslos malträtieren ließ. Zum ersten Mal wehrte sie sich. Später ist sie regelrecht auf ihren Vater losgegangen. »Weil ich hab’s einfach nicht mehr eingesehen. Verdammte Hacke! Also wirklich!« So an dem Tag, als ihr Vater von ihr verlangte, sie solle die Wohnung putzen. »Ich hatte mein Lebtag lang nicht putzen gelernt. Wir hatten doch immer eine Putzfrau. Und auf einmal sollte ich putzen. Ich hab es dann gemacht. Als ich damit fertig war, strich mein Vater mit den Fingern über die Fußleisten, um zu testen, ob da noch Staub drauf war. Und dann schmierte er mir den Dreck ins Gesicht. Da bin ich ausgerastet. Habe ihm dabei seine goldene Uhr zertrümmert. Der war total geschockt. Das wird mir heute noch vorgeworfen. Ich dachte aber in dem Moment, warum hast du das nicht schon eher gemacht? Ich hätte längst

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