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Die geprügelte Generation

Die geprügelte Generation

Titel: Die geprügelte Generation Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingrid Müller-Münch
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kritzelte sie: »Heute ist bei uns dicke Luft. Meine Eltern streiten sich wahrscheinlich über mich. Nach dem Reiten ging es los. Väterchen meinte, ich hätte alles falsch gemacht. Ich musste mein Radio abgeben …«
    Zum Teil unter erschwerten Bedingungen, während des Stubenarrests und zeitweilig ohne Licht, notierte sie in ihre Tagebücher alles, was ihr widerfuhr. Sie schrieb und schrieb. Wenn sie dies oder das nicht machen würde, heißt es an einer Stelle, »säß ich schon längst unten mit sechs Wochen Reitsperre und einer Tracht Prügel, die sich gewaschen hätte. Aber so ist es bei uns halt immer, meistens bin ich die Dumme und wenn ich mich wehren will, krieg ich eins um die Löffel und Stubenarrest. Ich weiß auch nicht, woher das kommt. Wenn meine Eltern mich ordentlichund normal behandeln würden, wäre ich auch umgänglicher, aber die steigen einfach nicht dahinter.«
    Ilkas Traum von Armut und Harmonie
    Ihre Eltern waren wohlhabende Kaufleute. Der Vater hatte eine eigene Firma in Bochum, wo Ilka 1963 zur Welt kam. Später gehörten dem Vater Häuser, »es war immer viel Geld da.« Die Familie lebte in einer 200 Quadratmeter großen Wohnung, von der aus auch die Geschäfte geführt wurden. Die Mutter fuhr als Zweitwagen Porsche oder später einen Morris Mini, kleidete sich teuer. Die Kinder spürten deutlich, dass sie in diesem von Arbeitern geprägten Ruhrgebiet anders waren als ihre Altersgenossen. Schon allein deshalb, weil sie als einzige von einem Fahrer zur Schule gebracht wurden und weil jedes Kind ein eigenes Zimmer mit Bad hatte. Aber auch, weil in der Wohnung echte Perserteppiche lagen.
    »Es gab halt die Armeleute-Schulbrote, auf denen war wenig Butter drauf oder überhaupt gar keine und nur draufgekratzte Nutella«, erinnert sich Ilka. Wie gerne hätte sie auch ein solches Nutellabrot gehabt, doch stattdessen gab es für sie nur gesunde Kost. »Schwarzbrote, oft mit Wurst und Käse und Gurkenscheiben und all dem ganzen Krempel, den man als Kind nicht ab kann. Ich hab die getauscht. Gegen die Armekinder Butterbrote. Und ich hab mir als Kind nichts sehnlicher gewünscht als arm zu sein. Ich hab ganz oft überlegt, wie das ist arm zu sein, so dass ich die Nutella aufs Brot kratzen müsste. Oder wenn ich ’nen Apfel mit meinem Bruder teilen müsste. Ich fand die Gesamtidee von arm sein total spannend.«
    Denn reich sein, das erlebte Ilka ständig, machte nicht glücklich. Jedenfalls nicht ein Kind wie Ilka in einer Familie, in der sie sich ständig wehren musste. Reich sein war immer auch mit Bedingungen verknüpft. »Dieses Reichsein entschuldigte ganz viele Missstände.« Nicht solche materieller Art. Daran mangelte esnicht. Aber alles sonst, was mit reich sein verbunden war, »alles hatte ’ne Verpflichtung. Und hatte ’nen Haken. Es wurde, sobald ich angefangen habe zu nörgeln, aufgezählt: Was willst du. Wir haben doch dies und das, ein Wochenendhaus, wir haben Pferde. Du hast ein eigenes Zimmer. Du hast ein eigenes Badezimmer. Also Kind, was ist mit dir verkehrt? Wir geben dir doch alles. Und damit waren die aus dem Schneider.«
    Das ständige Gefühl, überflüssig zu sein
    Ilka war ein anstrengendes, überkluges Kind. Mit vier schon konnte sie lesen und schreiben, während der Bruder als Legastheniker in der Schule mit Lernschwierigkeiten aufgefallen war. Dafür bezog er immer wieder Prügel. Doch Ilka hatte häufig das Gefühl, »ich bin zu viel. Ich bin zwar zeitweise o. k., wenn es halt gerade passt, aber ansonsten bin ich einfach zu anstrengend.«
    Sie war nicht nur anstrengend, sondern auch dickköpfig. Und vor allem: Sie ließ sich weder manipulieren noch unterdrücken, noch zu irgendetwas zwingen. Als sie etwa fünf Jahre alt war, sollte sie das gemähte Gras im Garten zusammenharken. »Ich habe Nein gesagt. Mache ich nicht. Das war mein erstes Nein. Und das Nein, was ich auch durchgehalten habe. Ich erinnere mich bis heute daran, dass ich das erste Mal das Gefühl hatte, wenn ich Nein sage, dann ist es Nein. Dann können sie mich prügeln und sonst was machen, aber ich mache es halt nicht.« Sie spürte damals schon, welche Kraft sie durch dieses Nein bekam. »Also ich hab das erste Mal gemerkt, ich hab Power, ich sag Nein und die rasten aus. Ich hatte Angst vor meiner eigenen Courage. Also das gleiche Gefühl, was ich auch noch heute habe, wenn ich so eine Linie überschreite.«
    Die Eltern griffen zu allen Mitteln, um dieses Kind klein zu kriegen, seinen Willen zu

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