Die geprügelte Generation
besser wurde und er endlich das machen konnte, was er immer schon wollte: Schauspielern. Und auch Ilka vollzog einen radikalen Schnitt, zog mit fünfzehn weg von Vater und Bruder und sah beide sechzehn Jahre lang nicht wieder.
»Als ich vierzehn war, bekam ich die letzten Schläge (von der Mutter). Wir wurden die besten Freundinnen, ich erzählte ihr nichts, sie mir alles. Ich war gut dressiert, meine Antworten waren spontan und entsprachen ihrer Erwartung. Ich brauche kein Fahrrad, es wäre zu gefährlich für mich. Alle in der Klasse gehen auf den Ball, das wäre mir zu kindisch. Meine Freundin Eva hat einen Freund, der sie geküsst hat, wie widerlich«, schreibt Anna Mitgutsch in ihrem Buch »Die Züchtigung« über ihre Protagonistin, deren Unterwerfung weiterging, obwohl es keine Prügel mehr gab.
Manchmal waren es aber auch äußere Umstände, die der Quälereiim Elternhaus ein Ende bereiteten. So erinnerte sich kürzlich eine meiner Freundinnen an einen Tag, den sie nie vergessen wird und der für sie die Welt veränderte. Es war der Tag, an dem ihr Vater wieder einmal einen ihrer sechs Brüder ganz fürchterlich verhaute. Doch diesmal beobachtete eine Nachbarin die Misshandlung. Daraufhin schellte die Frau und drohte zornig dem prügelnden Mann, sie werde ihn anzeigen, wenn er das noch einmal tue. »Nun hätte sie damit nicht viel erreicht«, meinte meine Freundin. Denn ihr Vater war Bürgermeister der Kleinstadt im Sauerland, in der die Familie lebte. Der hätte eine Anzeige sicherlich unterdrückt, vermutet sie. Andererseits wäre es aber auch peinlich für ihn geworden, wenn sich sein Verhalten rumgesprochen hätte. Jedenfalls änderte sich von dem Tag an sein Benehmen den Jungs gegenüber. Er traute sich nicht mehr zuzuschlagen. »Und wir Kinder hatten plötzlich das Gefühl, Macht zu haben.«
Die glorifizierte Freiheit von Summerhill
Die Jugend damals, meist gerade erst dem Rohrstock entkommen, war fasziniert davon, dass der englische Pädagoge Alexander S. Neill in seiner 1921 gegründeten Schule Summerhill gänzlich ohne Druck, Gewalt und Prügelei einfach nur Kinder glücklich machen wollte. Das war etwas ganz Neues! Berichte über Neills Summerhill erschienen ab 1960 auf dem deutschen Büchermarkt. Die Taschenbuchausgabe des von ihm herausgegebenen Buches über »Theorie und Praxis der antiautoritären Erziehung« erreichte bis 1969 eine Auflage von über einer Million Exemplare. Wie befreiend musste es auf Monika, Ilka, Detlev und all die anderen gewirkt haben, dass sich endlich jemand dagegen aussprach, Kinder qualvoll zu züchtigen, sie sich dadurch zurechtzubiegen. Denn aus dem tyrannisierten, geschundenen Kind werde sowieso nur ein unglücklicher Duckmäuser, so Neills Position.
In Köln geschah der Umbruch von der sogenannten »Schwarzen Pädagogik« hin zum antiautoritären Erziehungsmodell eher schleichend und zunächst, ohne dass die Verursacher dies planten. Pui Schmidt von Schwind studierte damals in Köln und weiß noch, wie planlos zunächst alles begann und welche Dynamik die Dinge dann bekamen. Für ihn fing es damit an, dass er sich in eine Kommilitonin verliebte. Seine Freundin wurde schwanger. Beide suchten verzweifelt eine Tages-Unterbringung für das Neugeborene, wollten sie doch ihr Studium fortsetzen. Doch in allen Kindergärten, in denen sie wegen eines Platzes nachfragten, wurde ihnen gesagt, »Studentenkinder nehmen wir nicht«. Das war so bei den städtischen, bei den evangelischen und katholischen Einrichtungen. Auch das Studentenwerk, an das sie sich wandten, wies sie ab. Der damalige Geschäftsführer beschied Pui kurz und bündig: »Studenten sollen erst studieren, bevor sie Kinder kriegen. Er hatte aber«, so Schmidt von Schwind, »offenbar nicht in die Statistik geguckt. Denn von den damals 18.000 Studierenden in Köln waren 1.200 verheiratet, und von denen hatte die Hälfte Kinder.«
Es half alles nichts. Irgendwo musste das Neugeborene ja bleiben. »Wir haben dann versucht, mit anderen gemeinsam an der Universität Räume zu bekommen, und sei es nur, um während der Vorlesungen mal für anderthalb Stunden den Kinderwagen abstellen zu können. Auch das ist uns nicht gelungen.« So mussten die studentischen Eltern, die wie Pui vor einem Dilemma standen, sich neu orientieren. Sie mieteten daraufhin eine Kölner Etagenwohnung an. »Und dort haben wir mit acht Kindern angefangen und einer Amateurmutter, also einer nicht ausgebildeten Erzieherin, die bereit war,
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