Die geprügelte Generation
unsere Kinder zu versorgen und zu beaufsichtigen.«
Zunächst ging es Pui und seinen Mitstreitern lediglich darum, dass ihre Kinder untergebracht waren. Doch mehr und mehr machten sie sich Gedanken darüber, wie die Kinder erzogen werden, was man ihnen beibringen sollte, welche Werte vermitteltwerden müssten. Die jungen Eltern begannen, sich zu informieren. »Die Politisierung fing ja damals schon an«, erzählt Pui. »1964 kamen die pädagogischen Defizite dieser Gesellschaft durch erste Publikationen deutlich zum Ausdruck«.
So überlegte Pui gemeinsam mit anderen Eltern, wie sie es denn besser machen könnten. »Es sollte das Gegenteil von dem werden, was wir erlebt hatten.« Man wollte weg von der bürgerlichen Kleinfamilie, in Wohngemeinschaften neue Lebensformen ausprobieren und tradierte Erziehungsmodelle ausrangieren. Der erste alternative Kinderladen in Köln wurde 1965 gegründet, ähnlich wie in Berlin und anderen größeren Städten. Um 1968 sprossen Elterninitiativen bundesweit wie Pilze aus dem Boden. Kinder durften sich in den von ihren Eltern ins Leben gerufenen Einrichtungen frei entfalten, wachsen und gedeihen.
1968 schrieb die kleine Gabi ihrer Großmutter folgenden Brief über ihre ersten Erfahrungen in einem der sogenannten Kinderläden: »Liebe Oma, es war toll. Zuerst sind wir über die Möbel geklettert und haben alle Spielzeuge auf den Boden geschmissen. Dann habe ich eine Wand und mein Gesicht sehr schön beschmiert. Ich war schmutzig, deshalb habe ich in dem Regen gebadet und in den Pfützen getrampelt. Ich war immer noch schmutzig, aber Mutti hat gesagt, dass ich mich nicht waschen muss. Deine Gabi.«
Der unbeholfene Umgang mit der neuen Freiheit
»Kaum eine Generation hat in Erziehungsfragen so viel bewegt, wie die unserer Eltern«, schreibt Adriano Sack, Kulturchef der Zeitung, in der Welt am Sonntag im März 2004. Sack kommt zu dem Schluss: »Die 68er probierten neue Erziehungsmethoden aus – und machten dabei erstaunlich viel richtig.« Sie schmissen alles über den Haufen, was bislang in der Kindererziehung als erstrebenswert galt. Hinterfragten Traditionen, verhöhnten dasAlthergebrachte. Ihr oberstes Ziel war es, ihrem Nachwuchs die Einschränkungen und Demütigungen, die blauen Flecken und harschen Worte ihrer Eltern zu ersparen, ihre Kinder glücklich zu machen. Dazu warfen sie Verbote über Bord, übten sich in grenzenloser Geduld, ließen den lieben Kleinen geradezu schrankenlose Freiheiten. Und viele Kinder dieser neuen Generation gediehen prächtig, atmeten eine neue Luft, entfalteten sich nach Gutdünken in alle möglichen Richtungen und sind heute als Erwachsene lebendig, kritisch, diskussionsgewohnt, konflikterprobt und wohngemeinschaftserfahren.
Dennoch gab es in den vergangenen Jahren am Erziehungsstil der Alt-68er immer wieder Kritik – vor allem aus konservativen Kreisen. An der Laisser-faire-Haltung, die sie angeblich gegenüber ihren Kindern eingenommen hätten. An den Experimenten, dem Tohuwabohu, das sie in ihren Kinderläden zuließen. Sie werden für alle nur denkbaren Missstände verantwortlich gemacht. Doch ohne ihre langmähnige Aufmüpfigkeit, ihr unverdrossenes Engagement und ihre nimmermüde Bereitschaft, sich auf Neues, auf Experimentelles einzulassen – ohne die Generation der Alt 68er-Eltern – wäre alles beim Alten geblieben. Ohne diesen wirklich handfesten Umbruch hätten die festverwurzelten Pädagogik-Vorstellungen der Altvorderen womöglich noch heute Gewicht. Nur durch eine gedankliche und gesellschaftliche Revolte konnten altbackene Verhaltensweisen, eingefahrene Rollenverteilungen und der autoritäre Umgang mit dem Nachwuchs überhaupt erst über Bord geworfen werden. Und das war bitter nötig. Nur: Es fehlten Vorbilder. Das, was die 68er gelernt hatten, war ihnen meist eingedroschen worden. Und genau das wollten sie nicht wiederholen. Also experimentierten sie herum.
Adriano Sack beschreibt dies aus der Sicht eines Betroffenen sehr genau. Sack weiß wovon er spricht, er war eines der ersten Kinderladenkinder. Sein Vater war Soziologe; in den Bücherregalen zu Hause stapelten sich Karl Marx, Michel Foucault und die antiautoritären Schriften von A. S. Neill. Im Plattenschrank seinerEltern standen Joan Baez, Georges Moustaki und die Rolling Stones. Kein einziges Mal wurden er und seine beiden Geschwister gezwungen, Dinge zu essen, die sie nicht mochten. Über die Frage, wann sie abends nach Hause kommen sollten, wurde bei Sacks am
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