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Die geprügelte Generation

Die geprügelte Generation

Titel: Die geprügelte Generation Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingrid Müller-Münch
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liebevoll zu meinem einzigen Sohn war. »Den hat sie richtig geliebt und dies auch zeigen können.« Stundenlang hat diese Frau, die nie mit uns Töchtern gespielt hatte, sich im Kinderzimmer meines Sohnes auf den Teppichboden gekniet und sich aufs Playmobil spielen eingelassen. Immer ist sie vorbeigekommen, wenn es eine der häufigen Versorgungslücken gab, die bei zwei freiberuflich tätigen Elternteilen zwangsläufig entstehen. »Das hat mich sehr mit ihr versöhnt. Auf eine begrenzte Weise. Die mir aber auch reicht. Ich bin meinem Sohn sehr dankbar dafür, dass ich mit ihm nochmal eine glückliche Kindheit erleben konnte. Das war für mich ein richtiges Geschenk. Mein Sohn war ein glückliches Kind. Auf Fotos strahlt er meist. Es gibt so ein Strahlefoto von ihm, aus einer Situation, in der wir zwei, wie so häufig, einen unserer heißgeliebten Schnuller-spuck-Wettbewerbe in seinem Kinderzimmer veranstalteten. Er saß dabei in seinem Kinderbettchen, um sich herum ganz viele Schnuller. Die spuckte er in meine Richtung, ich stand an der Tür und spuckte zurück. Wir waren beide ausgelassen, hatten Spaß. So etwas habe ich mit meinen Eltern früher nie erlebt.«
    Ellen bekam von ihrer Mutter irgendwann mal beschrieben, »sie komme aus einer Familie, in der nicht gesprochen wurde. Da gab es überhaupt keine Sprache. Für nix. Die Behinderung der Schwester meiner Mutter wurde nie thematisiert. Es fehlten für alles die Worte.« Das zu wissen, brachte ihr die Mutter näher. »Vorher hatte ich eine totale Distanz. War enttäuscht. Gekränkt. Und fühlte mich nicht gesehen. Und in dem Moment habe ich zum ersten Mal ihre Bedingungen wahrgenommen. Und wie schwierig das Leben für sie gewesen ist. Da habe ich die Kurve gekriegt. Das hat mir mein Verhältnis zu meinen Eltern erleichtert.«

14. Kapitel
GEGEN EINE GENERATION BEGEHRT AUF MUFF UND MIEF
    Das geformte, abgerichtete, disziplinierte, gehemmte Kind findet man überall auf der Welt. Man braucht bloß über die Straße zu gehen. Es sitzt in einer ungemütlichen Bank in einer ungemütlichen Schule. Später wird es dann noch ungemütlicher am Schreibtisch in seinem Büro sitzen oder an einer Werkbank in einer Fabrik. Ein solches Kind ist fügsam, gehorcht der Autorität aufs Wort, fürchtet sich vor Kritik und wünscht fast fanatisch, normal, konventionell und korrekt zu sein. Es nimmt alles, was ihm beigebracht wird, beinahe ohne Frage hin und wird all seine Komplexe, seine Ängste und seine Frustrationen an die eigenen Kinder weitergeben.
    A. S. Neill, Summerhill.
    Nun reicht es
    Die geprügelten Kinder jener Zeit spürten mit dem Älterwerden plötzlich die eigene Kraft. Eines Tages reichte es ihnen und sie merkten, dass sie stärker geworden waren als Vater und Mutter. Der Zeitpunkt, an dem sie sich Kochlöffeln und Rohrstöcken widersetzten, ging oft mit der beginnenden Pubertät einher. So wie bei Sonja, die ab dem 14. Lebensjahr nicht mehr bereit war, so ohne weiteres den Rohrstock vom Esszimmerschrank herunterzuholen und der Mutter in die Waschküche zu folgen. Auch Detlev erinnert sich an den Tag, an dem seine Mutter ihn, den Vierzehnjährigen, mal wieder ohrfeigen wollte. Und er ihr den Arm festhielt, denn dazu war er inzwischen stark genug.
    Für die Juristin und engagierte Kinderschützerin Lore Peschel-Gutzeit ist dies eine höchst interessante und vielsagende Zäsur,wie sie mir erläuterte. »In dem Augenblick, in dem die Kinder groß sind und sich wehren können, sprich: zurückschlagen können, hört die Prügelei auf. Dies war für mich immer ein Argument, um die Feigheit der Eltern darzustellen, die ihre Kinder schlagen. Sie schlagen nämlich nur kleine und wehrlose Kinder, müssen also keinerlei eigene Beeinträchtigung fürchten. Niemand käme auf den Gedanken, einen großen, kräftigen Halbstarken noch zu schlagen, weil jeder Elternteil wüsste, dass er ebenfalls entsprechende Prügel einfangen würde. Ich meine, dass diese Tatsache besonders gut zeigt, was hinter dem Schlagen von Kindern wirklich steckt: Eine schlichte Machtausübung«. Und die hat ihrer Einschätzung nach mit Erziehung nicht das Geringste zu tun.
    Nicht immer bedeutet die Tatsache, dass sich geprügelte Kinder ab einem gewissen Zeitpunkt nichts mehr gefallen lassen, gleichzeitig für sie auch Befreiung und Aufatmen. Tilman Röhrig, der schon mit fünfzehn von zu Hause abhaute, erlebte zunächst eine schwere Zeit voller Unsicherheiten, Entbehrungen. Musste sich durchschlagen, bis es

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