Die geraubte Braut
verzweifelt den Kopf zerbrochen, wie sie Olivia eine Nachricht zukommen lassen konnte, doch hatte sich bis heute keine Gelegenheit ergeben. Selbst wenn es ihr gelungen wäre, das Dorf unbemerkt zu verlassen, hätte sie für einen solchen Ausflug keine Zeit gefunden.
Dem Wort des Herrn über Decatur getreu, war der neue Rekrut ohne Rücksicht auf Geschlecht oder Beziehung in die Truppe eingegliedert worden. Da sie den niedrigsten Rang innehatte, wurde sie regelmäßig mit eintönigen und ermüdenden Wartungsarbeiten betraut, die jedoch unumgänglich waren, um die Ausrüstung in hervorragendem Zustand zu erhalten. Sie machte auch Postendienst nach Plan, und wenn dies bedeutete, dass sie nicht Rufus' Bett teilen konnte, nahm er es ohne Grollen hin. Rückte Rufus zu einer Unternehmung aus, nahm sie nicht immer daran teil. Als sie dies einmal in Frage gestellt hatte, lautete seine Antwort, ein Blick in den Dienstplan hätte ihm gezeigt, dass sie zu Übungen an der Feldschlange eingeteilt worden sei. Portia schloss daraus, dass Rufus nie erwogen hatte, ihren Dienstplan zu ändern, um diese Konflikte zu vermeiden.
Die kleine Aktion des heutigen Tages hatte als Routinesache begonnen. Will sollte mit einer Abteilung von zehn Mann, darunter Portia und Paul, das Netzwerk von Spähern in der Gegend kontrollieren. Normalerweise hätte er sich damit begnügt, die Kuriere der Rebellen zu verfolgen, doch die Meldung, dass ein kleiner Granville-Trupp sich von York her näherte, hatte seinen Kampfgeist gestärkt. Er wollte ohne Rufus oder George allein ein Gefecht bestehen. Es war das erste Mal, und er ergriff die Gelegenheit, sich als Kommandant auf dem Feld zu bewähren, beim Schopf.
Portia und Paul auf die Fährte der Kuriere zu setzen erschien Will als ideale Lösung. Zudem war es keine gefährliche Mission, da sie besser bewaffnet waren und das Überraschungselement auf ihrer Seite hatten. Für den Aufbruch ins Lager wollte man sich bei Sonnenuntergang treffen. Damit blieben Portia zwei Stunden, um ihr Vorhaben zu erledigen. Sehr viel Zeit also.
Sie blickte zur Burg hinauf, von deren Zinnen und Türmen Flaggen wehten. Auf dem Eis hinter der Insel würde sie von der Zugbrücke und den Wachttürmen aus nicht zu sehen sein, und auf der Insel selbst war sie sicher vor Entdeckung. Trotzdem machte sie sich mit einem tiefen Atemzug Mut, als sie die Deckung verließ und das grünlich-durchscheinende Eis betrat. Einige wenige Schritte, und sie vernahm ein unheilverkündendes leises Knacken.
»Hölle und Teufel!« stieß sie hervor und rannte tiefgebückt übers Eis. Sie hatte keine Ahnung, wie tief der Graben war, doch auch wenn er seicht war, bedeutete es eine Katastrophe, wenn sie einbrach. Inmitten einer schnatternden Entenschar lief sie zur Insel und tauchte ins Dickicht der Büsche ein.
Portia fand den Stein vor, wie sie ihn in Erinnerung hatte. Sie zog den Brief aus der Innentasche ihres Kollers und schob ihn unter den Stein, um sofort wieder übers Eis zurückzulaufen.
Just als sie die Deckung verlassen wollte, hörte sie die Stimmen. Sie waren noch weit, und es dauerte einen Moment, bis ihr klarwurde, dass eine davon Olivias Stimme war. Aber wem gehörte die andere? Wenn Olivia sie entdeckte, war es halb so schlimm, doch konnte sie sich nicht erlauben, von jemandem anderen hier ertappt zu werden.
Es gab kein Versteck. Die ganze Insel bestand praktisch nur aus einem großen Felsblock, der ihr momentan als Deckung diente. Vielleicht würde Olivia auf ihren Schlittschuhen vorübergleiten, ohne sich umzudrehen. Die Stimmen kamen näher, hoch und eindringlich, beide weiblich. Portia runzelte die Stirn und kramte in ihrer Erinnerung. Irgendwie kam ihr die zweite Stimme bekannt vor ja, jetzt fiel es ihr ein. Sie gehörte Phoebe, Dianas jüngerer Schwester. Nun, wenn sie sich nicht sehr verändert hatte, war von ihr nichts zu befürchten. Portia hockte sich auf den Felsblock und wartete.
Die Mädchen erreichten die Insel. »Der Stein ist hinter dem Gebüsch«, stieß Olivia atemlos hervor. »Sie hat versprochen, eine Nachricht zu hinterlassen, bislang aber hat sie es nicht getan. Ich mache mir Sorgen, dass sie es womöglich nicht bis Decatur geschafft hat.«
»Ich habe es geschafft«, ließ Portia sich daraufhin vernehmen und kostete ihren Überraschungscoup weidlich aus.
Olivia, die vor Angst und Erleichterung aufschrie, warf die Arme hoch. »Ach, Portia!«
Portia umfing sie. »Ich hinterließ eine Nachricht, die sich jetzt
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