Die geraubte Braut
dem die Mannschaft untergebracht war. Portia zog ihren Handschuh wieder an.
»In diese Richtung.« Olivia ging zum Rundbogentor voraus, durch das man in den Innenhof und weiter zum Haupttrakt gelangte. Portia straffte ihre Schultern und folgte ihr.
Kapitel 4
»Das ist dein Schlafgemach.« Olivia öffnete die Tür zu einem kleinen Turmzimmer. »Sehr einladend ist es n-nicht«, entschuldigte sie sich. »Aber D-Diana sagte, du solltest es bekommen.«
Portia trat ein. Die Kahlheit der Wände wurde durch ein paar armselige Wandteppiche gemildert, auf dem Boden lag eine Bastmatte. Im Kamin brannte ein kleines Feuer, in einem Doppelarmleuchter aus Zinn flackerten zwei Talgkerzen. Das geölte Pergament, mit dem das hohe, in die dicken Mauern eingelassene Fenster verschlossen war, knatterte unter den eisigen Windstößen. Ein niedriges, schmales Bett, ein Schemel, ein Tischchen, ein Waschtisch und ein Schrank bildeten die Einrichtung.
Portia erfasste alles mit einem einzigen Blick. Die Kargheit des Raumes verriet, welche Position ihr in diesem Haus zugedacht war. »Mit wem teile ich die Kammer?«
»Mit n-niemandem natürlich!« wehrte Olivia schockiert ab.
»Dann ist es ein wahrer Palast«, erklärte Portia gutgelaunt und zog ihre Handschuhe aus. »Es ist um vieles komfortabler, als ich es gewöhnt bin.«
Olivias Miene ließ Zweifel erkennen. »Sicher bringt man dein G-Gepäck gleich herauf. Wenn du deine eigenen Sachen um dich hast, wird es gleich viel g-gemütlicher sein.«
Portia lachte. »Gepäck? Ich habe nur das, was ich am Leibe trage. Ach, natürlich auch die kleine Kassette, die am Sattel festgemacht ist. Die möchte ich nicht missen.« Ihr Lächeln verblasste kurz. »Wenig genug für die siebzehn Jahre, die ich auf der Welt bin, aber mehr habe ich nicht.« Es war alles, womit sie beweisen konnte, wer sie war. Diese kleinen Andenken, die mitleiderregend wirkten und nur ihr etwas bedeuteten, waren alles, was ihr von ihrem bisherigen Leben und von ihrem Vater geblieben war.
»Du hast nichts anderes an Kleidung?« Olivia starrte sie an.
Portia schüttelte den Kopf und sagte mit gewohnter Unbekümmertheit: »Nur das, was ich am Leibe trage. Und diese Sachen sind schon viel besser als jene, die ich anhatte, ehe Sergeant Crampton mich fand.« Sie öffnete ihren Umhang und warf ihn aufs Bett, ehe sie sich bückte, um das glosende Feuer zu schüren. »Das Holz ist grün«, bemerkte sie. »Vielleicht finde ich ein paar trockene Stücke, wenn ich mich hier ein wenig auskenne.«
Olivia runzelte die Stirn. Vermutlich hatte Lady Diana den Dienstboten, die diesen Raum vorbereitet hatten, zu verstehen gegeben, es sei nicht der Mühe wert, es dem Neuankömmling besonders gemütlich zu machen.
»Ich soll dich zu D-Diana b-bringen.«
Portia richtete sich auf. Die Aussicht, ihrer Stiefmutter gegenübertreten zu müssen, schien Olivias Stottern zu verstärken.
»Ist sie ein Scheusal?«
Olivia nickte. »Sie ist grässlich.«
»Ach.« Portia nickte. »Ich nehme an, sie will mich hier nicht haben.«
Wieder nickte Olivia.
»Weiß es Lord Granville?«
Olivia schüttelte den Kopf. »Nein! D-Diana läßt ihn nie ihre schlechte Seite sehen. Er hält sie für wundervoll und g-gütig.«
»Männer sind so blind« bemerkte Portia resigniert. »Auch die nettesten sehen nicht, was sich vor ihrer Nase abspielt. Also, gehen wir und trotzen wir dem Drachen.«
Olivias Lächeln vertrieb die Schatten aus ihrem bleichen, stillen Gesicht, und der Glanz in ihren schwarzen Augen verschönte ihre Züge. »Ich bin so froh, dass du da bist.«
Im Lichte dessen, was sie eben erfahren hatte, enthielt sich Portia eines Urteils, und sagte nur: »Im Vergleich zur St. Stephen's Street ist Castle Granville eine enorme Verbesserung.«
Diana, die sie in ihrem Salon erwartete, legte ihren Stickrahmen beiseite und unterzog Portia mit scharfen, gnadenlosen Augen einer Musterung. »Olivia hat dir dein Zimmer gezeigt?«
»Ja, Madam.« Portia knickste wohlerzogen. »Ich bin Euch für Eure Gastfreundschaft überaus dankbar.«
»Ja, sie geht über das hinaus, was familiäre Verpflichtung gebietet«, stellte Diana kalt fest. »Ich erwarte, dass du dich für die Großzügigkeit meines Gemahls entsprechend erkenntlich zeigst.«
Aha, dachte Portia, nun kommen wir dem Kern der Sache schon näher. »Madam, Ihr könnt meiner Dankbarkeit gewiss sein.«
»Dein Gemach liegt unmittelbar neben der Kinderstube. Wenn die Kleinen nachts schreien, hörst du sie und
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