Die geraubte Braut
Im tiefen Winter ruhten zwar die Feindseligkeiten, doch war es eine unsichere Waffenruhe, die nicht lange währen würde. Sobald Lord Leven und seine schottische Streitmacht zur Armee des Parlaments unter Lord Fairfay stießen, würden die Royalisten zahlenmäßig ins Hintertreffen geraten. Einer Frau, die sich, allein auf sich gestellt, auf den Kriegsschauplätzen herumtrieb, stand nur eine einzige Möglichkeit des Geldverdienens offen, die Portia schon vor langer Zeit von sich gewiesen hatte. Selbst als es die einzige Chance war, sich Brot und ein Dach über dem Kopf zu verschaffen.
Als Mann hätte sie sich natürlich den Truppen anschließen können und hätte damit ausgesorgt gehabt. Ein zögerndes Lächeln legte sich um ihre Lippen, als ihr einfiel, dass ihr einst ein solcher Plan gar nicht unvernünftig erschienen war. Aber damals war sie noch ein Kind gewesen, das seinen kindlichen Wunderglauben hegte.
Von Müdigkeit übermannt, gähnte Portia, die jeden einzelnen Muskel zu spüren glaubte. Am Morgen würde sicher alles besser aussehen. So wie immer.
Lächelnd schlief sie ein. Ihr letzter Gedanke galt dem großen rothaarigen Rufus Decatur, der Brot aufschneiden konnte wie eine erfahrene Hausfrau …
Sie erwachte, als an ihre Tür gehämmert wurde, und setzte sich auf, sofort hellwach, aber orientierungslos. Blinzelnd hielt sie Umschau in dem fremden Raum, in den durch das tief in die Mauern eingelassene Fenster fahles Licht einfiel.
»Portia!« Das Pochen wurde wiederholt, und nun kehrte auch die Erinnerung wieder.
»Einen Moment!« Sie glitt aus dem Bett und wickelte sich vor Kälte zitternd in die Decke, als sie barfuß zur Tür tappte und den Schlüssel umdrehte. »0 Gott, wie spät ist es denn?« fragte sie gähnend.
»Acht Uhr vorbei.« Olivia trat an ihr vorüber ein. »Es ist etwas Erstaun …«, sie kämpfte verzweifelt, bis sie fortfuhr, »… liches passiert!«
Portia sprang zurück ins Bett und drückte ihre Füße tief in die zurückgebliebene nächtliche Wärme. »Was denn?«
»Mein Vater.« Olivias aufgeregter Blick verriet nicht, ob die Nachricht gut oder schlecht war. Portia wartete geduldig, bis das Mädchen seine Gedanken geordnet hatte.
»Er … er hat sich für das Parlament entschieden!« brachte Olivia schließlich heraus. »Heute will er sich öffentlich dazu bekennen.«
»Ja. das ist allerdings interessant«, in einte Portia nachdenklich. Die Granvilles waren die einflussreichste Adelsfamilie im Norden. Schlugen sie sich auf die Seite des Parlaments, dann war dies für die Königstreuen ein schwerer Schlag.
»Meine Stiefmutter liegt im Bett.« Olivia holte tief Atem, ehe sie fortfuhr: »Das tut sie immer, wenn ihr etwas nicht genehm ist.« Nun atmete sie laut aus und sah Portia an, als hätte sie eine Großtat vollbracht.
»Das wird für alle eine kleine Atempause sein«, bemerkte Portia und wurde mit einem Kichern Olivias belohnt. Nun schlug Portia die Decken entschlossen zurück. »Ich sollte wohl aufstehen.«
»Ja-Janet hat sich schon gewundert, wo du bleibst.«
»Die Kinderfrau?« Portia verzog das Gesicht, als sie sich aufraffte und in ihrem Hemd zitternd dastand. »Ich glaube, sie und ich werden nicht gut miteinander auskommen.« Rasch zog sie sich mit klammen Fingern an. »Aber als erstes brauche ich Holz fürs Feuer und Wasser zum Waschen. Wo finde ich das alles?«
»Ruf einfach eine Magd.«
Portia schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht, dass jemand auf Castle Granville mich bereitwillig bedienen würde. Außerdem bin ich imstande, alles selbst zu besorgen.« Ihren Mantel um die Schultern werfend, murmelte sie: »Ich wünschte, die Kälte würde mir nicht so zusetzen.« Dann eilte sie, gefolgt von Olivia, zur Tür.
»Lass uns als erstes in die Küche gehen.«
Olivia zuckte zustimmend mit den Achseln und folgte dem Wirbelwind, der in Gestalt Portias in ihr Leben getreten war und mit wehendem Mantel den Gang entlanglief In der Küche sah Olivia zu, wie Portia völlig zwanglos und unbefangen mit der Köchin und dem Gesinde, die inmitten brodelnder Kessel und rotierender Spieße an der Arbeit waren, Bekanntschaft schloss. In Minutenschnelle hatte sie ihr heißes Wasser, mit dem sie sich in der Spülküche waschen konnte, und als sie wieder in der Küche erschien, setzte sie sich zu Eiern mit Kalbfleischscheibchen.
»Hast du schon gefrühstückt, Olivia?« fragte sie, während sie hungrig ein Stück Gerstenbrot mit goldener Butter bestrich. »Die Eier sind ganz
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