Die geraubte Braut
nur keine Tränen. Er hatte sie für kämpferisch und zäh gehalten, für kühl und realistisch. Ihr Schwächeanfall überraschte ihn. Zögernd trat er einen Schritt auf sie zu. »Was ist los?«
»Was glaubt Ihr denn?« schnüffelte sie zornig. »Ich bin todmüde und hungrig, mein Gesicht ist zerkratzt und wund, meine Kleider zerrissen, und alles für nichts. Ihr hattet es gar nicht auf mich abgesehen.« Es war lächerlich, so etwas zu sagen, wie ihr sogar an diesem Tiefpunkt klarwurde, aber aus irgendeinem Grund war das Wissen, unerwünscht zu sein, das sie mit der Ammenmilch eingesogen hatte, in diesem ganzen verwünschten Verwirrspiel der absolute Gipfel.
»Nein, Ihr wart nicht das Objekt dieser kleinen Aktion«, pflichtete er ihr ruhig bei. »Und es tut mir leid, dass es für Euch so strapaziös war. Ihr hättet Euch Georges Anweisungen fügen sollen, dann hättet Ihr wenig oder gar keine Unannehmlichkeiten erdulden müssen.«
»Wie könnt Ihr das sagen?« Portias Tränen trockneten wie von Zauberhand. »Gewiss, Olivia hätte schreckensstarr getan, was man ihr befiehlt. Aber sie ist anders als ich. Sie wurde vornehm erzogen und ihr ganzes Leben lang behütet. Und Ihr nennt Todesangst wenig oder keine Unannehmlichkeit!.«
Rufus sah erleichtert, dass die Portia Worth, die er kannte, wieder zum Vorschein kam. »Aber George ist doch keine furchteinflößende Erscheinung«, wandte er ein. »Ich betraute ihn mit dieser Aufgabe, weil er irgendwie väterlich wirkt.«
In der Meinung, sich verhört zu haben, starrte Portia ihn entgeistert an. »Väterlich!« rief sie aus. »Väterlich!«
»Er ist das geachtetste Ratsmitglied unserer Gemeinschaft«, brachte Rufus als Rechtfertigung vor. »Seinen Rat und seine Hilfe schätze ich über alles. Er wusste, dass er das Mädchen gut behandeln sollte und hätte sich daran gehalten.«
»Ach, ich soll also glauben, dass Ihr die Tochter Cato Granvilles anständig behandelt hättet?« Portias Worte troffen vor Hohn. »Ihr haßt den Mann. Ich glaube keine Sekunde, dass Ihr Euren Haß seine Tochter nicht hättet fühlen lassen!«
Rufus erbleichte trotz seiner wettergegerbten Haut, seine Augen sprühten blaues Feuer. »Hütet Euch«, sagte er leise.
Portia hielt es für besser, sich zurückzuhalten, zumindest bis das Feuer in seinen Augen erloschen war. »Ihr könnt mir nicht verargen, dass ich so denke«, sagte sie schon milder gestimmt.
»Doch, ich kann«, beharrte er. »Ich kann es Euch verargen, dass Ihr glaubt, ich würde ein unschuldiges Mädchen etwas büßen lassen, an dem es keine Schuld trägt.«
»Und was tut Ihr mir an? Bin ich nicht unschuldig? Und leide ich nicht für etwas, an dem ich nicht schuld bin?«
Rufus sah sie schweigend an, dann lachte er reumütig auf, und die Spannung im Raum zersprang wie Kristall. »Da ist etwas Wahres dran, Mädchen. Setzt Euch.« Er legte seine Hände auf ihre Schultern und drückte Portia auf einen Schemel.
Dem Druck widerstehend blickte Portia trotzig zu ihm auf. Die Schultern unter seinen Händen waren so dünn, dass er jeden Knochen spürte wie einen Zweig, der zwischen seinen Fingern zu zerbrechen drohte.
»Setzt Euch«, wiederholte er. »Sicher werdet Ihr mir Gelegenheit, geben, einige der Unannehmlichkeiten wiedergutzumachen.« Eine rotgoldene Augenbraue hob sich herausfordernd. »Habt Ihr Angst, Portia?«
»Nein.« Sie ließ sich auf dem Schemel nieder. »Sollte ich denn Angst haben?«
»Nein.« Er schüttelte den Kopf. »Aber ich habe, wie schon gesagt, ein unberechenbares Temperament.«
Er füllte ein Becken mit heißem Wasser aus dem Kessel über dem Feuer und brachte es an den Tisch. Sodann tauchte er ein Tuch ins Wasser, fasste unter Portias Kinn und machte sich daran, die Kratzer in ihrem Gesicht abzutupfen und getrocknetes Blut und Schmutz zu entfernen.
»In Krankenpflege bin ich nicht gut«, murmelte er kopfschüttelnd. »Wo habt Ihr Euch so zugerichtet?«
»Ich wusste schließlich nicht, dass ich in ein Dornendickicht geraten würde, bis ich mittendrin steckte«, erwiderte Portia und fragte sich, warum ihr so heiß wurde, als seine großen, kraftvollen Hände ihr Gesicht mit merkwürdiger und nicht zu ihm passender Sanftheit hin und her drehten.
»Es würde mich interessieren, was Ihr gemacht hättet, wenn Euch die Flucht geglückt wäre«, fragte Rufus, nachdem er sich überzeugt hatte, dass alle sichtbaren Kratzwunden gereinigt waren. Er ließ sich auf der Tischkante nieder, das feuchte, blutbefleckte
Weitere Kostenlose Bücher