Die Gerechten
haben.«
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FREITAG, 6 UHR, SEATTLE
Um sechs Uhr morgens wachte er in seinem Hotelzimmer in Seattle auf. Er hatte die Story von Missoula aus in die Redaktion geschickt und sich dann auf den weiten Rückweg quer durch das Land gemacht. Beim Schreiben hatte ihn ein einziger, köstlicher Gedanke beflügelt: Friss das, Wal ton. Was hatte dieses Arschloch gesagt: Einmal ist ein Erfolg, William, zweimal wäre ein Wunder.
Will betete zum Himmel, dass er es richtig gemacht hatte. Seine größte Sorge war, dass die Redaktion zu viel Ähnlichkeit mit der Macrae-Story finden würde: Ein guter Mensch unter lauter Schurken. Deshalb hatte er dem Milizen-Aspekt großes Gewicht gegeben und das Ganze mit einer Menge Lokalkolorit ausgestattet. Jetzt konnte er nur das Beste hoffen. Er hatte sogar mit dem Gedanken gespielt, das Zitat über Baxter als den »Gerechten« wegzulassen; das Gleiche hatte die Frau über Howard Macrae gesagt. Es konnte aufgesetzt wirken. Aber wenn er es ignorierte, wäre das Willkür gewesen.
Er griff nach seinem Blackberry. Das rote Licht blinkte vielversprechend: neue Messages.
Harden, Glenn: Gute Arbeit, Monroe. Das war es, was er hören wollte. Es bedeutete, dass er es geschafft hatte. Wenn er jetzt nur Waltons Gesicht sehen könnte. Die nächste Mail sah nach Spam aus; der Absendername war nicht klar, sondern bestand aus einer sinnlosen Zeichenkette. Will wollte sie gerade löschen, als er das einzelne Wort im Betreff-Feld sah. Beth. Er öffnete die Nachricht, und das Blut gefror ihm in den Adern, bevor er alles gelesen hatte:
RUFEN SIE NICHT DIE POLIZEI. WIR HABEN IHRE FRAU. ZIEHEN SIE DIE POLIZEI HINZU, UND SIE WERDEN SIE VERLIEREN. RUFEN SIE NICHT DIE POLIZEI, ODER SIE WERDEN ES BEREUEN. IN EWIGKEIT.
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FREITAG, 21.43 UHR, CHENNAI, INDIEN
Die Nächte wurden kühler. Trotzdem zog Sanjay Ramesh es vor, hier im klimatisierten Büro zu bleiben, statt sich der erstickenden Hitze der Stadt auszusetzen. Er wollte warten, bis die Sonne ganz untergegangen wäre, ehe er nach Hause fuhr.
Auf diese Weise ersparte er sich nicht nur die feuchte Hitze, sondern auch die Tortur an der Haustür. Jeden Abend saß seine Mutter bis in den späten Abend hinein mit ihren Freundinnen draußen, wo sie tratschten und sich über ihre Gesundheitsprobleme beklagten. In solcher Gesellschaft brachte er meist kein Wort über die Lippen – wie eigentlich in fast jeder Gesellschaft. Dazu kam, dass der September für die Verhältnisse in Chennai ein kühler Monat sein mochte, aber es war immer noch quälend heiß und klebrig. Hier in diesem Raum, einem Großraumbüro von den Ausmaßen eines Flugzeughangars, ausgefüllt von zahllosen Reihen schallgedämpfter Kabuffs, war das Klima genau richtig. Für das, was er zu tun hatte, war es die perfekte Umgebung.
Er arbeitete in einem Callcenter, einem der vielen tausend, die überall in Indien aus dem Boden geschossen waren. Vier Etagen, vollgestopft mit jungen Indern, die Anrufe aus Amerika oder aus Großbritannien entgegennahmen, von Leuten in Philadelphia, die Probleme mit ihrer Telefonrechnung hatten, und von Reisenden in Macclesfield, die wissen wollten, wann der Zug nach Manchester fuhr. Wenigen davon – wenn überhaupt einem – war klar, dass ihr Anruf auf die andere Seite der Welt geleitet wurde.
Sanjay gefiel der Job. Für einen Achtzehnjährigen, der zu Hause wohnte, war die Bezahlung nicht schlecht, und er konnte den Schichtdienst so einteilen, dass er sein Studium nicht vernachlässigen musste. Aber das Allerbeste war sein kleines Abteil hier. Da hatte er alles, was er brauchte: einen Stuhl, einen Tisch und vor allem einen Computer mit einer schnellen Verbindung zur Welt.
Sanjay war jung, aber er war ein Veteran des Internets. Er hatte es entdeckt, als sie beide noch in den Kinderschuhen steckten. Damals hatte es nur ein paar hundert Websites gegeben, vielleicht tausend. Das Netz war gewachsen, und er auch. Das World Wide Web war wie eine binäre Zahlenfolge expandiert – 1, 2, 4, 8, 16, 32, 64, 128 –, und seine Größe hatte sich scheinbar mit jedem Tag verdoppelt. Heute umspannte es den Globus mehrfach. Körperlich hatte Sanjay bei diesem Tempo natürlich nicht mitgehalten – er war ein schmächtiger, dünner Junge aber im Kopf war es ihm gelungen, fand er. Er wuchs mit dem Internet und entdeckte täglich neue Gebiete des Wissens und der Neugier. Von seinem Zimmer im ersten Stock des Hauses hatte er Reisen nach Brasilien unternommen, er hatte den
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