Die Gerechten
gestehen, diese Pat-Baxter-Geschichte fasziniert mich«, begann er, als ließe er sich zu einem freundlichen Schwatz an der Dozententafel nieder. Er merkte, dass sein englischer Akzent plötzlich ausgeprägter klang.
»Lassen Sie mal sehen.« Russell wandte sich seinem Computer zu. »Ah ja: ›Schwere innere Blutungen nach Schussverletzung, Quetschungen an Haut und Eingeweiden. Allgemeine Bemerkung: Nadelstich am rechten Oberschenkel, vermutlich kürzlich erfolgte Anästhesien«
»Wie definieren Sie ›kürzlich‹, Allan?«, fragte Will und hoffte, dass sein Tonfall hinzufügte: Ich frage aus rein akademischem Interesse.
»Ich würde sagen, unmittelbar zuvor.«
»Sehen Sie, ich muss sagen, genau das ist es, was mich fesselt. Warum anästhesiert ihn jemand, bevor er ihn umbringt? Was soll das?«
»Vielleicht wollten sie die Schmerzen des Opfers lindern.«
»Tun Mörder so was? Das ergibt doch keinen Sinn. Es sei denn …«
»Es sei denn, der Mörder war Mediziner. Die Macht der Gewohnheit: Vor jedem Eingriff eine Spritze.«
»Na ja, ich weiß nicht. Aber vielleicht wollte er etwas anderes tun, bevor er ihn umbrachte. Eine Operation vornehmen.«
»Wie kommen Sie darauf?«
»Na ja, ich dachte, Baxter fehlte eine Niere.«
Russell lachte. Will hatte Mühe zu sehen, was daran komisch sein sollte. »Ich verstehe, worauf Sie hinauswollen.« Russell grinste immer noch. »Sagen Sie, Will, haben Sie je einen Toten gesehen?«
Sofort musste Will an Howard Macrae denken, den Toten unter der Decke auf der Straße in Brownsville. Seinen ersten. »Ja. In meinem Job ist das schwer zu vermeiden.«
»Dann werden Sie nichts dagegen haben, noch einen zu sehen.«
Es war nicht so kalt, wie er gedacht hatte. Will hatte sich ein Leichenschauhaus vorgestellt wie einen riesigen Kühlschrank, wie die kalten Lagerräume im hinteren Teil eines großen Hotels. Aber das hier sah eher aus wie eine Krankenhausstation.
Ein Helfer schob eine Bahre hinter einen Vorhang; Will vermutete, dass dahinter der Untersuchungsraum lag. Ohne jede Vorwarnung zog Russell das Laken zurück.
Wills Magen krampíte sich zusammen. Der Leichnam war steif, wächsern, gelblich grün. Der Geruch war widerlich, und er schien in Wellen zu kommen: Ein, zwei Sekunden glaubte er, es sei vorbei, oder er habe sich daran gewöhnt, aber dann kam er wieder. Will hätte sich am liebsten auf der Stelle übergeben.
»Man muss sich doch erst irgendwie dran gewöhnen. Tut mir Leid. Wollen Sie es sich trotzdem anschauen?«
Will trat einen Schritt näher. Russell deutete auf die Bauchgegend, aber Will war gebannt von Pat Baxters Gesicht. Die Zeitung hatte Fotos gebracht, aber die waren körnig gewesen – hauptsächlich Standbilder von Fernsehaufnahmen. Jetzt sah er die wettergegerbten Wangen, die Augen und den Mund eines Mannes, der aussah, als sei er mittleren Alters, weiß und arm. Er hatte einen ziemlich langen Bart, der in einem anderen Kontext elegant, beinahe staatsmännisch ausgesehen hätte. (Will musste unversehens an Charles Darwins Gesicht denken.) Aber Pat Baxter sah damit aus wie ein Obdachloser, ein versoffener Penner, der neben einer Mülltonne im Park schlief.
Russell zog das Laken um Baxters Oberkörper zurecht; Will sah, dass er etwas verhüllen wollte – wahrscheinlich die Schusswunden. »Schauen Sie genau hin. Können Sie es sehen?«
Will beugte sich vor. Russell fuhr mit dem Finger an einem Strich auf der leichenweißen Haut entlang. »Das ist eine Narbe.«
»Im Nierenbereich?«
»Würde ich sagen, ja.«
»Und stammt die aus der Mordnacht?«
Russell deckte den Toten wieder zu, zog die Gummihandschuhe aus und ging zu einem Waschbecken in der Ecke. Er fing an, sich die Hände zu schrubben, und redete dabei über die Schulter. Die Sache schien ihm Spaß zu machen.
»Tja, natürlich ist das schwer zu sagen – angesichts der umfangreichen Verletzungen an Haut und Eingeweiden.«
»Aber was ist Ihre professionelle Ansicht?«
»Meine Ansicht? Diese Narbe ist mindestens ein Jahr alt. Vielleicht zwei.«
Will war enttäuscht. »Dann ist es nicht in der Nacht passiert? Die Mörder haben Baxter nicht die Niere herausgenommen?«
»Leider nicht. Sie sehen enttäuscht aus, Will. Ich hoffe, ich habe Ihnen Ihre Story nicht verdorben.«
Doch, das hast du, du Arschloch, dachte Will. Aber dann fiel ihm etwas ein, das Beth am Abend zuvor gesagt hatte, als er ihr am Telefon alles erzählt hatte.
»Da wäre noch etwas, das mir helfen könnte. Glauben Sie, wir
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