Die Germanen: Geschichte und Mythos - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)
Germanen zu integrieren, schloss er sie aus. Das gelang auch ein paar Jahre, und prompt kehrte die in den Markomannenkriegen erschütterte Arroganz der Römer wieder. Am einstigen Donaulimes, im heutigen Ungarn, ist eine Inschrift zu lesen. Ihr zufolge ließ Kaiser Commodus die Wachtürme und Kastelle erneuern, um dem »Eindringen umherstreifender Räuberchen zuvorzukommen«. Besatzer-Hochmut, gewiss. Immerhin sollte es noch über zwei Jahrhunderte dauern, bis Rom diese Gebiete endgültig den Germanen überlassen musste.
Mär von deutschen Recken
Als Nationalepos trutziger Germanen gepriesen, wurde das Nibelungenlied im 19. Jahrhundert Teil der Volkserziehung. Heute ist umstritten, wie viel die Sage überhaupt mit der Völkerwanderungszeit zu tun hat.
Von Rainer Traub
Unter den Merkwürdigkeiten der deutschen Geschichte nimmt das Nibelungenlied einen besonderen Platz ein. Wie kam es, dass ein Sagengewebe aus grauer Vorzeit zum Urquell und Beweisgrund eines germanischen Nationalcharakters stilisiert wurde? Als ein unbekannter Dichter um 1200 die Mär von Liebe und Hass, Treue und Verrat, Gier und Grauen, deren Stoff mündlich wohl schon lange kursiert hatte, in mittelhochdeutschen Versen niederschrieb, da gehörten die Recken, von denen die Rede war, einer längst nebelhaften Vergangenheit an.
Liegt der Heldensage ein Göttermythos zugrunde – oder verarbeitet sie, zumindest in Teilen, geschichtliche Ereignisse? Seit dem 19. Jahrhundert debattieren die Fachleute darüber. Heute neigt man zur zweiten Auffassung, wie der Mediävist Joachim Heinzle in einem Standardwerk darlegt, dem sich das folgende Resümee verdankt (»Die Nibelungen. Lied und Sage«): Die Verschriftlichung der Nibelungensage habe dazu gedient, den Zeitgenossen im Hochmittelalter »die alte Geschichte verständlich und annehmbar zu machen«.
Zum Sagenpersonal gehören – neben einem Drachen, allerlei übernatürlichen Kräften und Märchenhelden wie Siegfried – Gestalten, deren Vorbilder viele Generationen vor der Niederschrift tatsächlich gelebt haben sollen. Die Nibelungen werden im ersten Epos-Teil Burgunder genannt. Ein den Germanen zugezählter Stamm der Burgunder – oder Burgunden – hat in den ersten Jahrhunderten unserer Zeitrechnung existiert. Der fabulöse Erzählfluss führt geschichtliche Spurenelemente mit, die ins 5. Jahrhundert verweisen: in die Ära der sogenannten Völkerwanderung. Im Lauf mündlicher Überlieferungen sind historische Partikel in der phantastischen Heldendichtung aufgegangen wie Bäche im Bett eines windungsreichen Stroms. Dieser speist sich zudem aus zwei gänzlich verschiedenen Hauptzuflüssen: Die Tradition der Ritter- und Liebeslyrik, der das hochmittelalterliche, in der Minnetradition stehende Nibelungenlied entstammt, vereint sich mit dem Stoff eines spätantiken, ganz anders gearteten Heroenkults, dem höfisches Ritual und Verfeinerung fernliegen.
Damit nicht genug der Verwirrung. Trennten bei der Niederschrift des Nibelungenliedes bereits gut 700 Jahre das höfische Publikum von jener Epoche, der solche mythisch überhöhte Helden wie der 453 gestorbene Hunnenkönig Attila (im Lied König Etzel) oder der 526 gestorbene Ostgotenkönig Theoderich der Große (Dietrich von Bern) entstammten, so fiel das Epos in der frühen Neuzeit dem Vergessen anheim.
Erst nach der Mitte des 18. Jahrhunderts kamen mehrere Handschriften, auf denen sich in Bibliotheken weltlicher oder geistlicher Herrschaften Staubschichten abgelagert hatten, wieder ans Licht. So begann eine verblüffende ideologisch-politische Wirkungsgeschichte, die nichts zu tun hatte mit der hochmittelalterlichen Geburt des Nibelungenliedes oder mit den Legenden von einer inzwischen über 1200 Jahre zurückliegenden Ära. Der höfische Unterhaltungsstoff wurde zum germanischen Nationalmythos erklärt, weil ein neues Bedürfnis nach einheitsstiftender Identität entstand und schnell wuchs. Von der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts an ersetzten Dichter und Denker die fehlende politische Einheit Deutschlands durch die Beschwörung eines Volksgeistes, der sich in Kunst und Literatur manifestiere. Die in Dutzenden von Kleinstaaten versprengten Deutschen sollten auf dem Weg zur nationalen Einheit mit einer Art gemeinsamer literarischer Abstammungsurkunde versorgt werden.
Beim Stöbern in der Bibliothek des Grafen von Hohenems entdeckte der Lindauer Arzt Jakob Hermann Obereit im Juni 1755 eine pergamentene Handschrift des Nibelungenliedes. Er
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