Die Germanen: Geschichte und Mythos - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)
Gallien eingefallenen Scharen – also wohl nur ein einzelner Stamm –, hätten Germanen geheißen. Allmählich habe sich dann der Brauch entwickelt, »dass sie alle anfangs aus Furcht vor dem Sieger Germanen genannt wurden, dann auch, als der Name einmal da war, sich untereinander so genannt hätten«.
Eine leidlich plausible, charakteristisch nüchterne Deutung. Leider nur hat sein ehrgeizig verknappter Stil dem Historiker gerade an dieser Stelle einen Streich gespielt. Denn wie genau man den »Namenssatz« übersetzen darf, ja ob er überhaupt handschriftlich richtig überliefert ist und nicht doch besser schonend korrigiert werden müsste, das haben auch mehr als hundert Spezialuntersuchungen bislang nicht definitiv klären können. Zumindest in diesem Punkt also ist Tacitus seinem Thema durch und durch gerecht geworden: Sein kleines Buch über die Nord-Barbaren gibt bis heute fast ebenso viele Rätsel auf wie die historischen Zustände, von denen es handelt.
Vergifteter Triumph
Drei Kriege waren nötig, bis die Römer die Markomannen niedergerungen hatten. Kaiser Mark Aurel und sein Sohn Commodus konnten Nordeuropa jedoch nicht mehr dauerhaft befrieden.
Von Michael Sontheimer
Bevor Mark Aurel mit seinen Truppen die Donau überquerte, um den Germanen eine Lektion zu erteilen, befragte er ein Orakel. Der Kaiser wollte von dem berühmten Seher Alexander von Abonuteichos wissen, wie sich ein glücklicher Ausgang des Feldzugs sicherstellen ließe. Der Priester, der einen Kult um eine Schlange mit Menschenkopf begründet hatte, empfahl Mark Aurel, zwei Löwen in die Donau werfen zu lassen. Gehorsam folgten der Kaiser und seine Männer dem Spruch. Doch zu ihrem Erstaunen ertranken die Raubtiere nicht in dem mächtigen Strom, sondern schwammen ans nördliche Ufer. Die dort ansässigen Barbaren hielten die Löwen für zu groß geratene Hunde und schlugen sie kurzerhand mit Knüppeln tot. »Unmittelbar darauf«, so der Bericht des römischen Satirikers Lukian, »erlitt unsere Seite ihre schwerste Niederlage, wobei nahezu 20000 Mann fielen.«
Es blieb nicht bei dieser Schmach. Im Jahr 170 nach Christus überwanden Krieger der Markomannen und anderer germanischer Stämme den Limes entlang der Donau und zogen raubend und mordend über die Alpen bis nach Italien. Mehrere Jahre brauchten Kaiser Mark Aurel, sein Sohn Commodus und deren Feldherren, um die Germanen so zu schwächen, dass sie zu Einfällen ins Reich nicht mehr fähig waren.
Eigentlich galten derart bedrohliche Angriffe als unmöglich, seit Kaiser Hadrian damit begonnen hatte, das Imperium Romanum gegen die Barbarenwelt zu befestigen. Im Norden Britanniens verlief der Hadrianswall, entlang des Rheins der niedergermanische Limes, der vom obergermanisch-raetischen, vom Limes entlang der Donau und etlichen anderen Grenzbefestigungen fortgesetzt wurde. In Friedenszeiten waren diese mit Palisadenzäunen, Gräben, Wällen und Wachtürmen ausgestatteten Schutzanlagen des Reiches einigermaßen durchlässig. An den Grenzübergängen erhoben die römischen Posten Zölle auf die in beide Richtungen transportierten Waren und kontrollierten die Einreise und Einwanderung von Barbaren ins Reich.
Einst hatte es geheißen: »Die Grenzen des Imperiums reichen so weit wie die Macht seiner Schwerter und Lanzen.« Doch diese offensive Strategie, wie sie der Redner Cicero zur Zeit der ausgehenden Republik formuliert hatte, war inzwischen überholt. Nicht mehr der Vergrößerung ihres Herrschaftsbereichs, sondern der Sicherung und Verteidigung des eroberten Territoriums galt die Sorge der Römer. Zu ausgedehnt und darum an zu vielen Orten gleichzeitig anfällig waren die Grenzen geworden.
Das Barbaricum jenseits des Limes bot kultivierten Römern wenig, und so war auch über die Barbaren östlich der Elbe und nördlich der Donau kaum etwas bekannt. Gelegentlich drangen Geschichten über Kriege zwischen einzelnen Stämmen nach Rom; immer wieder baten germanische Führer für sich und ihre Sippen um Asyl im Römischen Reich, das in ihren Augen ein Leben in Wohlstand und Frieden verhieß.
Auslöser der Unruhen, die seit Mitte des 2. Jahrhunderts entlang der Grenze im heutigen Österreich und Ungarn losbrachen, könnten die Goten gewesen sein, ein Volk, das am Mittellauf der Weichsel siedelte und nach Süden drängte. Damit gerieten die germanischen Klientelstaaten nördlich der Donau, deren Bewohner sich mit den Römern arrangiert hatten, unter Druck.
Für Mark Aurel, genauer
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