Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Germanen: Geschichte und Mythos - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)

Die Germanen: Geschichte und Mythos - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)

Titel: Die Germanen: Geschichte und Mythos - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Norbert F. Pötzl
Vom Netzwerk:
auf historische Hintergründe erlauben – an dieser Frage hingegen arbeiten sich bis heute die Historiker ab. Spekulationen sind dabei nicht zu umgehen. Trotzdem zeigen sich jüngere Forscher an den Burgundern (oder Burgunden), die mythisch zu Nibelungen wurden, durchaus interessiert.
    Erwähnt wird der Stamm erstmals für das 1. Jahrhundert nach Christus. Beim spätantiken Historiker Orosius, dessen große »Geschichte gegen die Heiden« um 416/17 entstand, ist zu lesen, die offenbar aus dem Osten zugewanderten Burgunden wären bald nach ihrer Ansiedlung am Rhein zu Christen geworden und hätten friedlich mit den Galliern zusammengelebt. Der Rhein ist zudem lang und der Ort der Überquerung unbekannt. Einige Historiker tippen auf den Niederrhein. Die Mehrzahl erwärmt sich für die Vermutung, unter den Germanen seien auch Burgunden gewesen, die sich dann am Mittelrhein in der Gegend von Worms (einer römischen Gründung des 1. Jahrhunderts nach Christus) niedergelassen hätten. Kurioserweise wird diese Vermutung vor allem damit begründet, dass im Nibelungenlied Worms als Herrschersitz der Burgunder geschildert wird – ein fiktives Werk schafft also eine historische Realität.
    Über diese Art von Beweisführung schüttelt die Archäologin Mathilde Grünewald, die über 30 Jahre das Museum der Stadt Worms im Andreasstift geleitet hat, den Kopf. Sie warnt: »In tausend Jahren stößt ein Historiker auf eine Kopie des Wim-Wenders-Films ›Paris, Texas‹. So wird die historische Lehre begründet, das große alte Paris hätte in Texas gelegen.« Über das 5. Jahrhundert gebe es kaum zuverlässige Schriftquellen, erläutert sie. »Was Sie darüber lesen, gehört oft in den Bereich der Märchen. Alles, was man seit 1879 in und um Worms ausgegraben hat, habe ich geprüft – und nichts Burgundisches gefunden.«
    Offenbar fehlt es sogar an der Stange, mit der man im Nebel herumstochern könnte. »Niemand kann beschreiben, was überhaupt burgundisch ist. Langobarden, Franken und Alamannen zum Beispiel sind an der Tracht identifizierbar. Bei ihnen konnte man Ausgrabungsfunde in vielen Fällen eindeutig zuordnen.« Energisch hingegen widerspricht die Archäologin Historikern, die der altdeutschen Reichstagsstätte Worms eine burgundische Geschichte andichten. Bezeichnenderweise gilt eine lateinische Rechtsquelle aus dem Jahr 517, die »Lex Romana Burgundionum«, als wichtigstes schriftliches Zeugnis für die Geschichte der Burgunder. Der Text – die älteste Kodifizierung eines germanischen Volksrechtes – bietet einen Auszug aus verschiedenen römischen Rechtsquellen, die offenbar das Zusammenleben der Burgunden sowie die Gemeinschaft mit anderen Germanen und Leuten mit römischem Bürgerrecht regeln sollten. Hierzu merkt der Historiker Reinhold Kaiser, Autor des Standardwerks »Die Burgunder«, an: »Das wenigste an diesen Texten ist burgundisch, das meiste ist römisches Vulgarrecht.« Von einem Aufenthalt am Rhein oder gar einer großen Schlacht, betont Archäologin Grünewald, »ist da nicht die Rede«.
    Immerhin kommt in der Gesetzessammlung ein Burgunderkönig Gundahar vor, in dem einige Forscher den Nibelungenhelden König Gunther – den Ehemann Brünhilds und Bruder Kriemhilds – zu erkennen meinen. »Im Nibelungenlied wurden geschichtliche Stoffe der Völkerwanderungszeit und solche der nachfolgenden Jahrhunderte miteinander verknüpft«, schreibt Kaiser nüchtern. »Einige von ihnen gehen eindeutig auf Gestalten und Ereignisse der Geschichte der Burgunder zurück, andere wurden unter Veränderung der Motivationen und unter Missachtung der chronologischen Darstellung zu einem neuen Sinnzusammenhang verwoben.«
    Viel mehr als das lässt sich über die Burgunder nicht herausbekommen; Grünewald nennt sie rundheraus »das unsichtbare Volk«. Wer es gern plastisch und drastisch hat, kann sich allenfalls auf ein paar Zeilen des hohen gallo-römischen Aristokraten Sidonius Apollinaris (um 432 bis um 481) berufen, der Bischof in der Auvergne war. Nach seiner Schilderung pflegte der gemeine Burgunder mit nackten Armen aufzutreten, streng nach Knoblauch zu riechen und das Haupthaar mit ranziger Butter einzufetten. Der vornehme Kirchenmann hat auch überliefert, die Burgunder hätten schon um 461 beim Gastmahl Heldenlieder zur Leier (»plectrum«) gesungen. Tauchen da also doch noch eine Art Proto-Nibelungen auf? Passen ranzige Haare und Knoblauch zu kernigen Recken? Rätsel über Rätsel.
    Ein Großteil der Vermutungen

Weitere Kostenlose Bücher