Die Germanen: Geschichte und Mythos - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)
unverwechselbar kreativen deutschen Wesensart hätte aber kaum genügt, um ausgerechnet das altertümliche, nur in Übersetzungen verständliche Nibelungenlied zum wichtigsten Unterpfand des deutschen Nationalgefühls zu ernennen. Den Ausschlag gab der patriotisch-politische Widerstand gegen den Eindringling Napoleon zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Auf der dringenden Suche nach gemeinschaftsstiftenden Symbolen erlangte nun das Nibelungenlied den Rang eines Nationalepos.
Leider nur gibt die Fabel vom strahlenden Siegfried und vom finsteren Hagen, von der bärenstarken Brünhild und der rachsüchtigen Kriemhild nationale Bezüge beim besten Willen nicht her. Ersatzweise sollten die Sagenfiguren angeblich typisch deutsche Nationaltugenden wie Ehre und Treue, Unbeugsamkeit und Mut verkörpern. Das Vorwort zu einer Ausgabe des Nibelungenliedes, die 1807 erschien, zeigt schon gut, woher der volkserzieherische Wind wehte. Ein Jahr zuvor hatte Preußen in der Doppelschlacht von Jena und Auerstedt eine demütigende Schlappe gegen Napoleon erlitten; die Invasion französischer Truppen hatte das Heilige Römische Reich Deutscher Nation zum Einsturz und eine Fremdherrschaft gebracht. Nun schrieb Friedrich Heinrich von der Hagen, der 1810 der erste Professor für deutsche Sprache und Literatur an der neu gegründeten Berliner Universität werden sollte:
Wie man zu des Tacitus Zeiten die Altrömische Sprache der Republik wieder hervor zu rufen strebte: so ist auch jetzt, mitten unter den zerreißendsten Stürmen, in Deutschland die Liebe zu der Sprache und den Werken unserer ehrenfesten Altvordern rege und thätig, und es scheint, als suche man in der Vergangenheit und Dichtung, was in der Gegenwart schmerzlich untergeht. Es ist aber dies tröstliche Streben noch allein die lebendige Urkunde des unvertilgbaren Deutschen Karakters, der über alle Dienstbarkeit erhoben, jede fremde Feßel über kurz oder lang immer wieder zerbricht, und dadurch nur belehrt und geläutert, seine angestammte Natur und Freiheit wieder ergreift …
Unterdeßen aber möchte einem deutschen Gemüthe wohl nichts mehr zum Trost und zur wahrhaften Erbauung vorgestellt werden können, als der unsterbliche alte Heldengesang, der hier aus langer Vergeßenheit lebendig und verjüngt wieder hervorgeht: das Lied der Nibelungen, unbedenklich eins der größten und wunderwürdigsten Werke aller Zeiten und Völker, durchaus aus Deutschem Leben und Sinne erwachsen und zu eigentümlicher Vollendung gediehen … Kein anderes Lied mag ein vaterländisches Herz so rühren und ergreifen, so ergötzen und stärken, als dieses.
Als wegweisende urgermanische Tugenden, die das Nibelungenlied lehre, nennt Hagen »Heldensinn, unerschütterlichen Standmuth, übermenschliche Tapferkeit, Kühnheit und willige Opferung für Ehre, Pflicht und Recht«. Diese vorbildlichen Eigenschaften sollten alle Patrioten »mit Stolz und Vertrauen auf Vaterland und Volk, mit Hoffnung auf dereinstige Wiederkehr Deutscher Glorie und Weltherrlichkeit erfüllen«. Nach diesem Katalog von Denkmustern berief sich ein zunächst defensiver, dann aber immer aggressiverer deutscher Nationalismus im 19. und 20. Jahrhundert bis zum Ende Hitler-Deutschlands gegen alle historische Einsicht auf das Nibelungenlied.
»Valkyrie« (Gemälde von Peter Nicolai Arbo, 1865)
NATIONALMUSEUM, STOCKHOLM/BRIDGEMANART.COM
Verblüffend schnell gehörte es zum militärischen Sturmgepäck preußischer Soldaten: Bereits 1815 erschien eine »Feld- und Zeltausgabe« des Nibelungenlieds. Natürlich war das Konstrukt einer kerndeutschen Tradition spätestens 1945 als Ideologie entlarvt. Doch der kulturelle Nimbus des Nibelungenliedes trotzte aller politischen Ernüchterung. Als bildkräftiges Märchen und Vorlage wuchtiger Wagner-Opern wie »Die Walküre« hat der Stoff nichts von seiner Anziehungskraft eingebüßt. Die Stadt Worms, in der große Teile des Nibelungenliedes spielen, veranstaltet seit 2002 sogar wieder sommerliche »Nibelungen-Festspiele« mit prominenter Besetzung. Die Idee, den Fremdenverkehr damit anzukurbeln und so der provinziellen Bedeutungslosigkeit zu entkommen, funktionierte in den ersten Jahren gut: mit »luftig-leichten Nibelungen-Travestien« (»Frankfurter Allgemeine«) gab der Dramatiker Moritz Rinke dem eher düsteren Stoff die angestammte Unterhaltungsfunktion zurück.
Welche faktischen Bruchstücke aus der Zeit der sogenannten Völkerwanderung, die sich in der alten Sage finden, einen Schluss
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