Die Germanin
seiner Gefolgsleute drängten heran und umringten den Wagen des Negotiators, der mit wertvollem Handelsgut bepackt war. Die Frechsten machten schon Anstalten, hinaufzuklettern und die Kisten abzuladen. Der Negotiator, ein schmales Männchen, erhob ein Geschrei und wurde vom Wagen gezerrt. Gaius Sempronius, der schon zu Pferde saß, sprang ab und versuchte, ihm zu Hilfe zu kommen. Aber es hatte ihn bereits ein Knüppel niedergestreckt, er lag ohnmächtig zwischen den Rädern. Der Baumeister, der sich den Fliehenden anschließen wollte, musste Faustschläge abwehren. Auch Gaius wurde gepackt und geschüttelt. Die Frau des Wigbrand, die vorher noch so hingebungsvoll die Verwundeten gepflegt hatte, krallte ihre Nägel in das Gesicht des römischen Richters und zog eine Blutspur.
Sie wurde so heftig zurückgestoßen, dass sie das Tuch verlor, mit dem sie ihren geschorenen Kopf bedeckt hatte. Nelda riss Gaius von ihr weg, führte ihn zu seinem Pferd und nötigte ihn aufzusitzen. Dann trat sie zu Hauk, gab ihm einen Stoß und befahl ihm, endlich das Tor zu öffnen.
»Mach auf!«, schrie sie. »Wird’s bald, du Dummkopf, du grober Tölpel? Ich will hinaus! Ich will ausreiten!«
»Öffne das Tor!«, rief Segestes.
Der Einäugige, durch Neldas wütenden Angriff überrumpelt, gehorchte. Sie bestieg ihr Pferd, das ein Knecht herangeführt hatte, und ritt zuerst hinaus. Gaius folgte ihr. Der Wagen mit dem älteren Sempronius und dem noch halb ohnmächtigen Negotiator rumpelte hinaus auf den Sandweg.
Als alle draußen waren und sich der Zug den Abhang hinabbewegte, begriff Segestes mit einem Mal, dass Nelda nicht nur Hauk zum Öffnen des Tores veranlasst hatte, sondern dass sie mit den Römern den Wehrhof verließ. Seine betroffene Miene hellte sich auf. Er ballte die Fäuste und reckte sie hoch in die Luft.
»Ja!«, rief er. »Recht so, meine Tochter! Reite mit deinem Bräutigam fort! Folge ihm über den Rhenus! Bringt euch in Sicherheit vor den Verbrechern!«
Doch kaum hatte er diese Worte ausgestoßen, wurde er von mehreren seiner Leute gepackt und der riesenhafte Hauk brüllte: »Welche Verbrecher meinst du denn? Meinst du die, die im Waldgebirge die Römer abschlachten? Unsere Befreier? Unsere Retter?«
Segestes wollte sich losmachen, doch die Männer hielten ihn fest und andere näherten sich in drohender Haltung.
»Hol deine Waffen und steig zu Pferde!«, befahl ihm der Einäugige. »Und dann führ uns dorthin, wo wir jetzt gebraucht werden!«
16
Sie waren längst fort, als Nelda am Abend zurückkehrte.
Die Sonne war schon untergegangen und der Herrenhof lag im Dämmerlicht. Nelda führte ihre erschöpfte Stute am Zügel. Verwundert bemerkte sie, dass das Tor offen und unbewacht war. Sie trat ins Haus ein und sah, dass sich die Bewohner an einer Seite der Halle um die Schlafbank drängten. Vermutlich war jemand krank geworden. Sie entschloss sich, zuerst das Pferd in seinen Verschlag zu führen und zu füttern. Halbdunkel herrschte auf der Stallseite des Hauses, auch hier war niemand. Sie ergriff eine Gabel und trat in die Ecke, wo das Heu aufgehäuft war. Müde und noch ganz von den schweren Gedanken erfüllt, die sich ihr seit dem Abschied von den Römern, seit sie wieder allein war, aufdrängten, stach sie die Gabel in den Heuhaufen. Dabei stieß sie auf Widerstand. Als sie genauer hinsah, fuhr sie heftig zurück. Sie war mit der Gabel auf einen abgehauenen Fuß getroffen.
Da lagen tote menschliche Körper im Heu. Kaum waren sie noch den Männern ähnlich, die man am Tag zuvor dort als Verwundete gebettet hatte. Alle waren verstümmelt und über und über blutbesudelt. Zweien von ihnen waren die Köpfe abgeschnitten, anderen fehlten Arme, Füße. Die Leiber waren aufgeschlitzt, Gedärm quoll hervor. Die beiden Köpfe waren an Pfeiler genagelt.
Nelda stürzte entsetzt hinaus und rannte hinüber in die Wohnhalle.
»Wer war das? Wer hat das getan? Vater, wo bist du? Mutter! Wer hat das angerichtet? Wie konntet ihr zulassen…«
Alle, die um die Schlafbank versammelt waren, wandten ihr ihre starren, ernsten Gesichter zu. Es waren Frauen, Mägde, Kinder und ein paar alte Männer. Aus ihrer Mitte trat Frau Male hervor, ein feuchtes, blutbeflecktes Tuch in der Hand.
»Ramis hat einen Sohn«, sagte sie und ging an Nelda vorbei. »Und es gibt keinen Vater, der ihn aufheben kann.«
Nelda hörte nun den zarten Schrei des Kindes und sah Ramis auf dem Lager, nackt und in Tränen.
»Sie sind alle fort«,
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