Die Geschichte der Anna Waser (German Edition)
ist der Jubel, und die ganze Welt in der Fülle … Vielleicht lieb’ ich den Oktober zumeist, dieweil er so tapfer und schön dem Tod ins Auge schaut, und man weiß auf einmal: Sterben ist nichts Schlimmes, ist eine Erfüllung, ein Ziel!“
Schlatter schüttelte lebhaft den Kopf: „Nein, nein,“ rief er fast heftig, „die jubelnde Erfüllung, so den Tod nach sich bringt, ist grauenhaft! Ich liebe die milde Gegenwart, die spätere Fülle verheißt.“
Er warf sich ins Gras und blickte unter halbgesenkten Wimpern zu Anna auf: „Wißt Ihr, wie ich Euch nun sehe?“ fuhr er leiser fort. „Wie einer der Cherubim, also blickt Euer Gesicht aus der freien Luft zu mir herab. Euer Haar aber schwimmt in der zarten Bläue wie jung Eichenlaub im Lenzhimmel … So werd’ ich Euch immer sehen, wann ich an diese Tage zurückdenke, mild und voller Güte, wie ein Engel in der milden Septemberwelt, und in mir alles licht und gut … Ich werde viel Kraft ziehn aus dieser Erinnerung, aber — auch viel sehren und schweren Mut, auch leiden werd’ ich nachher …“
Nachher? Anna erschrak. Ja richtig, das alles hatte ein Ende, diese sonnigen, lieben Tage, und dann kam das Nachher, und das war eine dunkle Stube und ein einsam Werk, etwas Leeres, etwas grausam Leeres nach der vollen Gegenwart.
„Und Ihr,“ fuhr der andere fort, „werdet Ihr auch ein wenig an mich denken, hie und da einmal, wann die kühleren Herbsttage kommen oder — oder sonst, wann all meine Gedanken zu Euch gehen und um Einlaß bitten wie ausgeschlossene Kinder, werdet Ihr etwas spüren und ihnen auftun?“
Anna sah ihn unsicher an, seine Augen schimmerten unklar. „Wohl werd’ ich etwan Euer gedenken,“ und sie zwang ihre Stimme zur Ruhe.
„Ich dank’ Euch,“ sagte er einfach, aber durch das hagere Gesicht lief ein eigenes Leuchten.
Später erzählte er von seinen Plänen, daß er seine Stell bei dem holländischen Grafen bald einmal zu quittieren und sich um eine andere am Gymnasio zu Kampen, allwo der greise Rektor ihm gar wohlgesinnt sei, zu bewerben gedenke. Er sprach mit großer Lebhaftigkeit und baute mit freudiger Zuversicht ein schönes Zukunftsgebäude; je höher aber seine Pläne stiegen, umso größere Traurigkeit legte sich über Anna. Ja der, die Zukunft lag vor ihm, und alles fügte sich zu einem Ziel, sie aber — seit die Brücken abgebrochen und sie den weiten Boden verlassen gemußt, war ihr ganzes Leben nicht ein großes graues Nachher?
Schlatter war aufgesprungen und stellte sich vor Annas Staffelei. „Oh,“ rief er voller Bedauern, „schon so weit! Ihr solltet Euch nicht dermaßen eilen; wann Ihr fertig seid, dann geht Ihr, und dann, ja dann ist alles zu End!“ Das tönte leidenschaftlich, fast schmerzlich. Ja, gab es etwa auch für den ein Nachher? Anna sah ihn verwundert an. Sein Gesicht war plötzlich dunkel geworden, und es war etwas Fremdes in seiner Stimme, wie unterdrückter Zorn schier, als er fortfuhr: „Früher, wann ich Eure Miniaturen sah, oh, wie ich sie bewundern konnt’ und mich freuen daran, und hab’ mir allezeit die Hand vorgestellt, wie fein und zart sie sein müßt’, um so Feines zu schaffen; nun aber, da ich Euch seiber seh, nun hass’ ich sie fast, jene feinen Werke, weilen ihnen alles gehört, die Hand und die Augen und — und alles; ich aber kann betteln und warten um einen Blick, einen einzigen flüchtigen Blick. Eure Hand, Eure Hand!“ Seine Stimme zitterte, und plötzlich kniete er neben Anna und hielt ihre Linke zwischen seinen bebenden Händen. Anna wollte sie ihm entziehen, aber er hielt sie fest: „Nein, nein,“ rief er flehend, „laßt mir sie, laßt mir sie, einen Augenblick bloß!“ Und Anna fühlte, wie von seinen heißen Fingern her ein seltsamer, lähmender Schmerz ihr durch alle Glieder ging; sie wollte aufspringen, sie wollte sich entziehen, sie wollte schelten, wollte hundert Dinge tun, um sich zu befreien aus dieser Qual, und blieb doch reglos, wie gebannt von einer fremden Macht, und ließ es geschehen, daß er ihre Finger an seine heißen Schläfen preßte, daß sie vermeinte, das Hämmern seines Blutes wie eine betäubende Musik im eigenen zu spüren.
Es war wie eine Schwäche, aber einen Moment bloß, dann fand sie Widerstand und Kraft. Rau entzog sie ihm die Hand und sprang auf. „Ich mag das nicht,“ sagte sie streng, während sie vor Erregung zitterte. „Ihr sollt nicht knien wie ein Franzos und nicht Wort machen wie ein solcher.“
Schlatter erhob sich
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