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Die Geschichte der Anna Waser (German Edition)

Die Geschichte der Anna Waser (German Edition)

Titel: Die Geschichte der Anna Waser (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maria Waser
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langsam. Er war blaß; aber auf seinem Gesicht lag es wie der Abglanz eines Lächelns.
    „Ich habe etwas entdeckt,“ sagte er leise, wie abwesend. „Euer Händchen — wir haben denselben Herzschlag, Anna, genau denselben Herzschlag, und wißt Ihr, was man sagt? Menschen, die denselben Herzschlag haben, sind füreinander bestimmt, von Uranfang füreinander bestimmt, und ist nichts, was sie zu trennen vermag.“
    Wieder streckte er die Hand nach ihr; aber Anna trat zurück: „Wollt Ihr, daß ich es bereuen muß, Euch mitgenommen zu haben?“ Sie warf den Kopf in den Nacken, die Augen sahen dunkel aus dem weißen Gesicht. „Wir gehen,“ sagte sie dann schroff, und rasch Bild und Farbenkästchen zusammenraffend, wandte sie sich, ohne zurückzusehen, dem steilen Pfad zu, der unter schattigen Bäumen niederwärts führte. Schlatter folgte, stumm, mit hängendem Kopf, Staffelei und Feldstuhl unter dem Arm; aber der letzte Schimmer eines Lächelns lag immer noch in den schmalen Augen.
    Früh am Abend zog sich Anna in ihre Kammer zurück. Mochte man glauben, daß sie durch ihre Anwesenheit den Besuch der Tante Ursula nicht stören wollte. Ohne Licht zu machen, setzte sie sich in den Sims ihres hochgelegenen Fensters und sah zu, wie die Nacht zuerst mit schwarzen Schatten am Lägerberg hinaufschlich und dann wieder mit bleichen Strahlen vom Gipfel niederglitt. Sie schmiegte die heiße Schläfe an den kalten Fensterstein und ließ sich die nachtfeuchte Kühle über den Körper rieseln. Kühl und klar wie das weiße Mondlicht draußen mußte sie werden, damit sie nachdenken konnte, unerbittlich nachdenken.
    Was sie heut dort oben erlebt unter der goldenen Esche, das hatte ihr die Augen geöffnet über Dinge, an denen sie bis dahin wie blind vorbeigegangen und ohn Bewußtsein.
    Aber nun wollte sie sehend werden, ganz sehend und ganz bewußt.
    Sie zog ihre Gedanken zusammen, daß sie hart wurden und scharf wie eines Messers Schneide, damit sie alle die Erlebnisse der letzten Tage klar und grausam auseinanderlegte.
    Ja, so war es: von der ersten Stund an war er ihr besonders gewesen und anders als die andern. Schon damals in der Kirche und dann im Weinberg, da sie sich über seine Anwesenheit zu ärgern vermeinte, war es nicht, weil sie fühlte, daß er ihre Gedanken anzog, mehr denn jeder andere? Und dann später, diese ganze Woche, die ihr schön erschien wie ein hold Geträumtes, wußte sie nicht heute jedes Wort zu wiederholen, das er zu ihr gesagt, und jede Gelegenheit, die sie zusammengeführt hatte? Und in den Stunden, da er mit den Söhnen des Landvogts war und mit ihnen über Land ritt, hatte sie nicht auf seine Rückkehr gelauscht, unablässig? Und wann er kam, hatte sie nicht sein Nahen gefühlt, ohne sich nur umzusehen?
    Und heute, da ihre Hände das heiße Blut seiner Schläfen spürte, war es nicht einen Augenblick über sie gekommen, daß sie sich hätte niederbeugen mögen und ihre Wange an ein glühendes Gesicht legen … Allmächtiger, so weit war es! Entsetzt sprang sie auf; aber dann sank sie wieder auf den Sims zurück und drückte ihren heißen Kopf härter gegen den Stein, daß die Stirn schmerzte. Was nun, was nun?
    Sie dachte weiter, an Lux. War es möglich, konnte es noch einmal kommen, nachdem es so schmerzlich zugrunde gegangen? War das wiederum die Liebe? Aber da fiel ihr ein, das mit Lux, das war doch ganz anders gewesen: stark und froh, wie wenn einer das erste Schneeglöcklein sieht und auf einmal spürt, nun kommt das große Wunder, der Frühling kommt, und er sich nicht zu fassen weiß vor unbändiger Freud, so war es damals, aber heute? Da war kein glänzendes Land, das sich vor ihr auftun wollte mit lichten Höhen und dünner Luft, wohl aber stand sie am Eingang eines Gartens, der war dunkel verhängt und geheimnisvoll die Wege, und kam ein Duft heraus, süß, süß, aber so schwer. Es war wie eine Betäubung.
    Sie aber wollte nicht betäubt sein, nie, niemals.
    Wohl war es seltsam zu denken, daß man nur hineinzutreten brauchte in diesen Garten — so leicht ging es, die Tür stand schon halb offen — und auf eins war es verschwunden, all das Leere und Einsame und Schmerzliche, und das Leben hatte die Fülle gefunden und den tiefen Ton — und vielleicht den festen Pol …
    Aber war sie nicht schon zu weit gegangen auf der andern Bahn? Wär’ das nicht ein Umkehren auf halbem Weg, sodaß ihr Leben am End aussehen mochte wie jenes Bildnis von des armen Giulio Hand: Unvollendet, in

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