Die Geschichte der Anna Waser (German Edition)
das ist die Reinheit, daran du nimmer geglaubt, das ist die Ruh und das Glück, so dein arm Herz umsonst erstrebet — da nimm!‘ Und wie ich darnach greifen wollt’ mit zitternder Hand, sieh, da erhielt ich einen Nasenstüber, und alles war weg.“
Herr Weggler machte ein stumpfes Gesicht: „Mit Verlaub, ist Euch solches bei wachenden Sinnen geschehen oder im Traum?“
„Im Traum,“ sagte Schlatter mit einem Seufzer, „natürlich im Traum.“
„Da muß ich denn doch gestehn,“ fuhr der Vikar bedenklich fort, „daß es mir höchst unklug erscheint, da außen und gar in der Nähe eines großen, nicht immer geheuerlichen Waldes einzuschlafen.“
„O ja,“ rief Schlatter spöttisch, „sehr unklug!“ Und dann lachte er laut auf und gab dem Pferd die Sporen, daß es davonraste, quer über die Wiese in den Wald hinein. Die andern folgten langsam.
„Es ist äußerst merkwürdig,“ sagte der Vikar mit wichtiger Umständlichkeit, „wie dieser Herr bei seiner großen Gelehrte und vielen Gereistheit ein oft kindisch und sonderbar Wesen an den Tag zu legen nicht verschmähet, solches unsereiner bei aller Bescheidenheit als unter seiner Würde zu erachten nicht umhin könnte.“
Anna schwieg; mit starker und aufmerksamer Hand faßte sie in die Zügel ihres Pferdes, das dem Davonjagenden nachzueilen bestrebt war. Nicht ohne Mühe hielt sie das vor Erregung bebende Tier im Zaum. Auf der andern Seite der schmalen Waldzunge, am Saum einer mächtig gebreiteten, nur sachte ansteigenden Wiese erwartete sie Schlatter, und während sie alle drei nebeneinander weiterritten, hub er mit Weggler ein sachliches Gespräch über seine Schüler an.
„Auf den Beat sonderlich,“ sagte er ernst, „solltet Ihr acht haben. Er zeigt ein schwärmerisch und überspannt Wesen, solches mir an einem jungen Menschen nicht bloß gegen die Natur, sondern auch äußerst gefährlich erscheinet. Seht zu, daß er nicht der schlimmen Pietisterei verfällt.“
Der Vikar sah halb demütig, halb gereizt auf: „Glaubet Ihr, daß ein jung Gemüt je zuviel von jenem Durste verspüren kann, der nach dem ewigen Leben dürstet?“
„Es handelt sich nicht darum,“ erwiderte der andere ruhig; „aber so ein junger Mensch in seltsamen und gehirnverrenkenden speculationibus sein Heil sucht und darüber die gesunde Welt und die klaren Zusammenhäng verliert und so er über das göttlich Wort hinaus nach dunkeln und vieldeutigen mystica suchet, leicht kann ihm der gesund Verstand, die klar Wissenschaft und der gut Glaube darüber verwirrt werden.“
Überrascht horchte Anna auf. Das waren Dinge, die auch sie nahe angingen, da ihr der Bruder Heinrich mit seiner Wundersucht und Pietisterei viel Kummer und schwerer Gedanken verursachte. Mit gespannter Aufmerksamkeit folgte sie Schlatters Worten, der klar und mit einer seltenen Kenntnis von Dingen, die ihr fremd waren, über das Wesen und die Gefahren der Pietisterei, die sich überall im Land wie eine kontagiöse Krankheit regte, sprach und auch für des Bruders Liebling, den Angelus Silesius milde, aber träfe Worte fand. Während er sprach, sah er ernsthaft vor sich hin mit gefurchten Brauen. Alles Weiche und Traurige war von ihm gewichen. Klar, männlich und reif wie seine Worte war auch sein Äußeres. Anna fühlte, daß sie in diesem Moment nicht mehr da war für ihn, und bei dem Gedanken gab es ihr einen plötzlichen feinen Schmerz. Im gleichen Moment zuckte auch das Tier unter ihr zusammen, als ob es eins wäre mit ihr, und jagte dann jählings in wilder und ungebundener Raserei über die weite Wiese hin. Anna, die im ersten Augenblick erschrocken war, fand sofort die sichere Hand wieder, und da sie das Tier in ihrer Gewalt wußte, war es ihr eine prickelnde Lust, so dahinzujagen durch die frische Luft und über das kurze Gras, daraus die Heupferdchen schwarmweis hervorstoben. Köstlich, wie jeder Nerv sich spannte und das Blut heiß und fröhlich ging. Ach, das war Leben! Sie hätte jauchzen mögen wie als Kind, wann sie mit Casparli Billeter über den Wiesenbach sprang, oder wie damals in Braunfels, wann sie mit dem gräflichen Herrn durch den Forst ritt und sie ihm auf schweizerisch singen gemußt; dann kam wohl ein lustiges Echo von der Burg zurück oder aus dem tiefern Wald, und war des Bruders Stimme. Ach, wie leicht es da zu leben war, wie frei.
Am andern Ende einer Wiese blieb das Pferd stehen. Als Anna sich wandte, war ihr Schlatter schon auf den Fersen. Er sah erregt aus: „Ihr
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