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Die Geschichte der Anna Waser (German Edition)

Die Geschichte der Anna Waser (German Edition)

Titel: Die Geschichte der Anna Waser (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maria Waser
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fühllos nicht!“ Und er flehte: „Sagt mir die Wahrheit, in Gottes Namen sagt mir die Wahrheit.“
    Anna wollte etwas entgegnen, sie suchte nach einem kalten tapfern Wort; aber die dumpfen Schläfen und der jagende Herzschlag fraßen ihr jeden klaren Gedanken und jede sichere Kraft, und da war etwas in seinen Augen und im Klang der Stimme, was der Verstellung trotzte. Ihre Hand zitterte in der seinen und leise neigte sie den Kopf.
    „Anna!“
    Und da fühlte sie seine Arme und fühlte seine Lippen auf den geschlossenen Lidern, und dann zart und schier ehrfürchtig auf dem eigenen bebenden Mund und fühlte, wie es über sie hinströmte, fremd, voller Bangnis und doch so süß …
    Leise zog er sie auf einen kleinen Felsensitz und kniete vor sie hin: „Anna, ist es wahr, kannst mich liebhaben, ein ganz klein wenig liebhaben?“
    Die Frage verhauchte. Es ward still, nur das Waldweben umschlang sie mit weichen summenden Wellen und entrückte sie und löste allen Zusammenhang, daß sie einsam waren und aufeinander gewiesen, wie am Anfang der Welt.
    Da beugte sie sich lächelnd zu ihm nieder: „Lieber!“ und strich ihm das wirre Haar aus der Stirn.
    „Du!“ Er barg seinen Kopf in ihrem Schoß und seine Gestalt zuckte. Als er das Gesicht wieder zu ihr erhob, waren seine Augen feucht.
    „Du, und willst mich hineinnehmen in deine reine Welt und willst mir die Güte geben, die ich nie gekannt, und die Stille und die Ruh?“
    Er drückte sein Gesicht in ihre Haare: „Wie es duftet!“ flüsterte er. „Dein Haar duftet wie ein Maienforst, wann der Waldmeister blüht, und wie weich es ist!“ Und er küßte die seidenen Locken.
    Dann zog er ihr die Handschuhe von den Händen und küßte die weißen Finger und preßte sie gegen seine heiße Stirn.
    Und Anna ließ es geschehen und fühlte, wie sich langsam etwas in ihr löste — war es eine Kraft, war es eine Qual? — und wie alles weich in ihr wurde und sanft und warm, wie die dürstende Scholle unter dem Maienregen.
    „Du, du!“
    *
    Und wieder stand sie an ihrem Fenster, als die Nacht niederstieg. Heute war es dunkel draußen; denn tausend kleine Wolken waren plötzlich über den Himmel gekommen und zogen nun mit rötlichen Mondrändern leise dahin. Ein kleiner Wind wisperte im Garten, wühlte die herbstlichen Düfte auf und trug sie zu ihr empor. Mit tiefen Zügen sog Anna die müde Luft ein. Dann beugte sie sich vor und betrachtete ein helles Lichtviereck, das aus einem halb abgewandten Fenster auf die Ringmauer fiel. Ein hoher schlanker Schatten stand in dem unsichern Schein.
    Anna lächelte: „Du, du!“ Und sie dachte, wann es Giulio wäre, seine Laute würde er nun holen und singen, so süß und selig, daß einem das Herz zerflöße, und wann es Lux wäre — in seiner Kammer auf und ab stürmen würde er, rastlos, und die Mauer hinabklettern und zu ihrem Fenster hinaufstarren, und Verse würde er ersinnen, heiße, jubelnde Verse. Der dort aber, wie still er stand in dem stillen Schein, doch seine Gedanken gingen zu ihr, daß sie sie spüren konnte, innig und zart wie Küsse auf der zitternden Hand, und waren tausendmal süßer denn Giulios Lieder und tausendmal inniger denn Lukas’ Verse.
    „Du, du.“
    Ihre Stirn berührte den Fenstersims, er war kalt und feucht. Sie schauerte leise zusammen: Hatte sie nicht einmal da gestanden, die Schläfen an den kalten Stein gepreßt, und hatte Vorsätze gefaßt, große, tapfere und kalt und hart wie der Stein da? Wohl, wohl; aber wie fern das lag, kaum daß man es noch erspähen konnte mit seinen Augen. Das war ja noch in jenem andern Leben gewesen, damals, als sie noch draußen stand, frierend und einsam mit dem harten Willen in der Brust und dem toten Herzen. Jetzt aber hatte er sich aufgetan, der geheimnisvolle Garten, und sie stand mitten drin, und die Geheimnisse öffneten sich, süß und kostbar wie dunkle Rosen und wie die verschwiegenen Lilien der Nacht.
    Draußen wurde es dunkler und dunkler; heftiger wehte der Wind und voller frostiger Schauer. An der Mauer verschwand das freundliche Licht. Anna schloß das Fenster und legte sich zu Bett. Es war kalt geworden auf einmal, die ganze Feuchte der Nacht saß in der Kammer und durchdrang das glatte Leinwat ihres Bettes. Anna fröstelte, und da tat sie, was sie früher so oft getan, um sich vor der Kälte zu schützen, die zuzeiten die Wände ihres Berner Stübchens verzuckerte: sie löste ihre Haare und legte sie wie einen Mantel um Brust und Arme.
    Das war das

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