Die Geschichte der Anna Waser (German Edition)
sie wollte ihm helfen. Das eine war ja allbereits getan, aus den Händen des Wucherers hatte sie ihn befreit, und daß jener schweigen würde, auch dafür war gesorgt, denn sie hatte ihm aus dem unerlaubten Geldleihen an einen Unmündigen einen bösen Strick gedreht. So würde denn niemand davon wissen, was der verblendete Knabe getan und daß er, von schlechten Menschen mißbraucht, auf einen Weg geraten war, der ihn um Ehre und Zukunft hätte bringen können.
Und niemalen brauchte es der Vater zu erfahren.
Freilich, ihre Ersparnis, die sie für allerlei Anschaffung drüben in der neuen Heimat zusammengelegt, die war nun dahin. Sie wog das leicht gewordene Kästchen in der Hand. Ja, wann jetzt der Bräutigam gekommen wäre, wie der törichten Jungfrauen eine stünde sie da, und wär’ kein Öl in dem Lämpchen. Sie lächelte wehmütig; am Ende mußte sie noch froh sein, daß er nicht kam; aber dabei fuhr ihr auch ein Gedanke durch den Kopf, der ihr seit gestern schon oft mit einem Trost gekommen: Das lange Warten, nun hatte es einen Sinn; alles war nun wie notwendig, versöhnlich und gut. Und bis er kam — sie hatte ja so genau gerechnet diese Nacht — wann sie recht tüchtig an der Arbeit war, bis dahin mochte das Lämpchen wieder gefüllt sein, und keiner wußte davon, daß es nicht immer so gewesen.
Als Anna die Treppen zu Heinrichs Kammer hinaufstieg, eilte ihr von oben der junge Beat Holzhalb entgegen. Sie wollte ihn aufhalten und einen Gruß an die Eltern auftragen; aber er rannte mit dunkelm Gesicht und flüchtig grüßend an ihr vorbei treppabwärts.
Den Bruder fand sie in großer Erregung: „Sie sind fort!“ rief er ihr entgegen, und sein Gesicht flammte: „Beide zusammen, heut morgen in aller Früh, und keiner weiß wohin.“
„Gottlob, die Luft rein!“ Anna atmete befreit auf.
„Beat zürnt mir,“ fuhr der andere hastig und ohne ihrer Worte zu achten fort. „Er sagt, ich sei schuld daran, hätt’ sie erschreckt mit meinem Tun gestern, daß sie Verrat befürchtet und Anzeige beim Vater. Mich beherrschen hätt’ ich sollen, meint er, kein Geschrei machen; denn so oder so, eine wunderbare Person sei sie in alle Wege, der man hätt’ Sorg tragen müssen. Denk, Anna,“ er sah die Schwester aus den übernächtigen Augen entsetzt an, „alles hab’ ich ihm erzählt, all das Abscheuliche von gestern abend, und dennoch sagte er solches … Oh, nun hab’ ich auch Beat verloren!“
Er seufzte und ließ kraftlos die Hände sinken.
Anna betrachtete ihn ernsthaft. Die beiden Jünglinge tauchten wieder vor ihr auf, wie sie sich zuerst getroffen in Regensberg und gleich mit soviel Schwärmerei gefunden — ja, der schicksalsschwere Tag … „So mußte es wohl kommen,“ sagte sie dann gelassen, „das Alte muß abgetan sein, ganz und gar, wann du Weg und Wille zum Neuen, Echten und Ehrlichen finden sollst. Auch das mit Beat, wenn anders er nicht herausfindet aus der Wirrnis, auch ihn mußt du wohl ziehen lassen, ein Stück Wegs zumindest, bis ihr beide festen Fuß gefaßt.“
Und dann erzählte sie von ihrem Gang zu dem Proselyten.
Heinrich horchte erst ungläubig auf; als er aber alles erfaßt hatte und sich auf einmal von einer schweren Last und all der Angst vor drohender Gefahr befreit sah, kam es wie ein Rausch über ihn, daß er die Schwester umhalste und lachte: „Ja, vorbei, alles soll fertig sein, alles!“ Und er eilte auf den Schrank zu und nahm Bücher heraus und Schriften, ganze Stöße: „Das soll in den Ofen, alles zusammen in den Ofen, daß es aus ist und zu End!“ Aber Anna wehrte es ihm: Wohl verwahren und beiseite legen die verführerischen, verbotenen Bücher und unheilvollen Schriften, das möge er schon tun, aber zerstören nicht. Dadurch, daß man die Spuren einer Tat verwische, sei diese nicht ungetan, und ein gewaltsam zerstörter Feind sei am allermindsten ein toter Feind, sondern stehe immer wieder auf mit tausend Fragen und Versuchungen wie das bös Gewissen. So man ihn aber im Auge behalte, bleibe er zwar ein steter Mahner, aber zugleich verliere er die Kraft der Versuchung und liege eines Tags machtlos da, nicht als ein Zerstörter, wohl aber als ein überwundener.
Sie half dem Bruder alles in eine Kiste packen, obenauf den Schein des Wucherers, und verwahrte sie dann im Kastenfuß. Ängstlich betrachtete Heinrich den kleinen Sarg so vieler Phantasterei, Seligkeit und Verzweiflung: „Aber wann man einmal darüber käme, um Stelle und Amt könnt’s mich
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