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Die Geschichte der Anna Waser (German Edition)

Die Geschichte der Anna Waser (German Edition)

Titel: Die Geschichte der Anna Waser (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maria Waser
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in eines andern Auftrag redete und daß sie nicht bloß eine Inspirierte ist, wohl aber eine große Heilige. Sie wollte noch ein Mehreres sagen, wie mich bedünkte, mit näherer Angabe von Zeit und Gelegenheit; aber da kehrten die andern, die ihre Furcht unbegründet gefunden, zurück, wobei sie alsobald wieder in schweren Schlaf verfiel, nicht ohne mir noch ein Zeichen zu geben, daß ich ihre Worte verschweigen sollt’, und ist sie aus solchem Schlummer den ganzen Abend nicht mehr erwacht.
    Mir aber ist von jenem himmlischen Auftrag die Hitze geblieben im Geblüt und das Zittern, sodaß ich Tag und Nach an sie zu denken nicht unterlassen kann, jeden Augenblick vermeinend, jenes Zeichen zu verspüren, auf das hin ich, ohngeachtet G.s Verbot, seine Schwester zu einer andern denn der von ihm bestimmten Stunde zu besuchen, mich ohnverzüglich zu ihr verfügen werde.
    Wann wird es kommen, Herr, Herr, und bin ich würdig solcher Weihe? Oh, sie ist eine große Heilige.“
    Anna ließ das Blatt sinken, ihre Hand zitterte. Das also war es! Sie hatte schon von jenen merkwürdigen Menschen reden hören, die, von Staat und Kirche verfolgt, auf absonderlichen und unnatürlichen Wegen nach dem rechten Glauben stöberten; aber sie hatte wenig darauf geachtet, denn das war ihr wie alles Unklare und Ungesunde in der Seel zuwider. Und nun war ihr Bruder auf die krummen Weg geraten und hatte von dem trüben Quell getrunken! Ihr Heini, der Sohn ihres Vaters und Zwinglis Enkel! Scham und Zorn wallten in ihr auf bei diesem Gedanken, das hatte er gekonnt, der dort! Aber da sie ihn nun sah, wie er dalag, das Gesicht gegen die Wand gekehrt, und ihm ein schmerzliches Zucken über den schmalen Rücken lief — ach, das war doch recht herzzerreißend, und man fühlte es, der so bitter darniederlag, er verdiente nicht Zorn und nicht Vorwürfe, bloß Erbarmen.
    Sie setzte sich wieder zu ihm, ergriff tröstend seine feuchte Hand und bezwang ihre Erregung, daß es milde klang, wie sie nun sprach: „Dort also warst du heute, bei der Tremulantin?“ Ein Seufzer antwortete ihr, oder war es ein Schluchzen, das halb unterdrückte, verzweifelte Schluchzen großer Kinder? Sie drückte seine Hand fester: „Ja, und da hast du wohl erfahren, daß sie keine Heilige ist?“
    Mit einer heftigen Bewegung richtete der Bruder sich auf und starrte sie aus rotgeränderten Augen an: „Woher weißt du das?“
    Sie lächelte ein wenig: „Weil ich weiß, daß es keine Heiligen gibt, am allermindesten unter denen Leuten, so ihre Frommheit mit lauten und absonderlichen Gebärden und mit Verrenkungen dartun, und dann, weil ich wohl verspürte, daß es kein heiliger Ort war, von wannen du mir heute kamst.“
    Heinrich schlug die schlanken Hände vor das schamrote Gesicht: „Ich kann nimmer leben,“ sagte er dumpf.
    Sie betrachtete den Gebrochenen, und wiederum übertönte ein schmerzliches Mitleid den aufsteigenden Zorn: „So,“ sagte sie ruhig, aber in etwas strengerm Ton, „deshalb also, weil du durch gütige Fügung noch rechtzeitig zur Erkenntnis deiner falschen und verwerflichen Weg gekommen, deshalb willst du nimmer leben?“ Und sie zog ihm die Hände vom Gesicht und blickte ihm fest in die Augen; aber der andere schüttelte traurig den Kopf:
    „Wie könnt’ ich noch leben, da ich an nichts mehr glauben kann? Nicht an die Menschen; denn ach, wann du wüßtest, wie sie war, hold, hold, wie ein Maienblust und rein wie die Ilgen und voll himmlischen Feuers wie Engel des Paradeises, und dann das von heut abend! Oh, werd’ ich’s nicht immer vor mir sehn, das Abscheuliche? Soll ich nun glauben, daß alles ein Trug, ihre inspirationes und göttlich Wunder, oder aber, daß Gott sich für seine Offenbarungen eines unwürdigen Gefäßes bedient? Beides ist so furchtbar, so furchtbar!“ Er seufzte, und dann fügte er leise hinzu: „Und wie kann ich an mich glauben, wenn all das inner Feuer und himmlisch Seligkeit, so ich in denen Zeiten verspürt und davon ich meine Seel gleichsam durchleuchtet und sublimiert fühlte, nichts ist als Trug und eitel Gaukelspiel? Worauf soll ich mich dann verlassen, wann selbst die innere Stimm für nichts mehr zu halten ist, bin ich nicht selbst schon verworfen und dahin?“ Und wieder setzte er mit fast eigensinniger Betrübnis hinzu: „Ich kann nimmer leben.“
    Anna sprang auf. Sie ballte ihre Hände, daß die feinen Knöchel scharf aus der glatten Haut hervorsprangen. Einen Augenblick war es totenstill im Zimmer. Dann

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