Die Geschichte der Anna Waser (German Edition)
griechische Dichter gestanden wie ewige Gestirne, und irgendwie wurzelte er in jenen Stunden, da sie Herrn Morells Worten gelauscht und vermeinte, Türen sich öffnen zu sehen, eine nach der andern, die zum Allerheiligsten führten und zu jedem tiefsten Geheimnis. Wohl hatte sie lange nicht daran gedacht, und oft war es wie verschwunden im Drängen und Geschäftigkeit des Alltags. Aber es war ihr wie Gewißheit, daß es in jeder trübsten Zeit sich regen müßte und ihr aus jenem geheimen Schatz, wie aus einem Wunderborn, in jeder schwersten Stunde eine Kraft zuströmen mußte, daß sie nimmer zugrunde gehen konnte — nimmer.
Aber den Bruder jenem Gewaltigen zuzuführen, das ging wohl nicht an. Der Grund war noch zu locker, um solch mächtigen Baum zu halten, und die weiche Scholle verlangte annoch süßere Nahrung. Und gar das Estherlein! Wie eine blauschillernde Wasserjungfer über das Wiesenbächlein, so würd’ es über die purpurnen Tiefen gaukeln und sich daran genügen, wenn ihm die unendlichen Fluten sein eigenes Flimmergewändlein und ein Stück Blauhimmel vorspiegelten. Oder tat sie ihm unrecht, dem wilden raschen Kinde?
Nein, mit dem großen Griechen ging es nicht. Doch da war ein anderer Großer, der war auch klar und tief und ewig, aber die eigne Zeit, ihre Schmerzen und ihre Sehnsucht spiegelten sich in ihm, und auch er hatte den Zauber der Sprache, und er hatte die Weichheit des Herzens und Zweifel und Erlösung zerrissener Seelen.
In das Reich Racines wollte sie die beiden führen, daß sie unversehens in einen starken und guten Strom gerieten, darin sie beide fanden, was ihnen not tat, Tiefe und ein größeres und gestärktes Wesen.
Sie sah so deutlich, wie es kommen würde: Zuerst wollten sie nicht gern dahinter und sträubten sich wohl gar gegen das gemeinsame Arbeiten; denn sie hatten sich nie so recht vertragen, und jedes möchte sie allein haben. Und so ganz verschieden würden sie es angreifen, das Estherlein mit raschem Verständnis, leidenschaftlich erfassend, was ihm zusprach, und das andere überhüpfend, Heinrich aber still, mehr zuwartend und gründlich. Aber dann kam der Augenblick, wo sie beide an denselben Worten sich entflammten — vielleicht war’s einer jener himmelschönen Chöre, daraus alle Kraft eines naturseligen zu Gott strömenden Gefühls klang — ja, und dann las eins die eigne Begeisterung in den Augen des andern, und wann zwei junge Herzen erst einmal über derselben Schönheit höher geschlagen, wo waren dann alle Zweifel und Hadergelüste? Dann war es auf eins nicht mehr das alte Estherlein mit dem frechen roten Zünglein und nicht mehr der Träumerbub, der untapfere; einfach zwei junge Menschen waren sie dann, gewillt, nach dem Schönen und wahrhaft Wertvollen zu fahnden. Wann es aber einmal so weit war und die junge Freundschaft zwischen ihnen stand, das gab eine Kraft und eine Helligkeit beiden; dann kam wohl die Zeit, wo sie gehen konnte, sie bedurften ihrer nicht mehr.
Denn Altersgemeinschaft war eine große Macht, und man brauchte gar nicht alt zu sein, um zu erkennen, daß keine Schranke das Jugendland härter abschließt denn Erfahrung und Einsicht. Sie wollen nicht geleitet werden, die ganz Jungen, selbander suchen, tasten und finden wollen sie, und das ist recht und ist das Gesunde; denn nur das Selbsterrungene gibt Kraft und hat Bestand. Alle geborgte Weisheit ist hinfällig, sie trägt kein Licht in sich, wohl aber die grauen Schatten der Langeweile, die sich so gern verdunkelnd und mißleitend über die naturgewollten Wege legen. Nur zusammenbringen mußte sie die beiden; aber bis man so weit war, lag ihr allein des Bruders Leitung an, und dazu bedurfte es wohl einer starken Hand.
Sie fühlte es in den kommenden Tagen, da bei Heinrich nach dem ersten beglückten Aufatmen die alten Nöte wiederkamen, Kleinmut und Zweifel und wohl auch Verlangen nach den frühern Zuständen. Da mußte sie mit aller Zartheit und Stärke zugegen sein, um den Schwachen zu stützen, und durfte ihn nimmer aus den Augen lassen, ob sie gleich zur selben Zeit auch ihr Malwerk wieder mit erneutem Eifer aufnehmen mußte.
So waren die Tage auf eins wieder voll geworden und bunt, und als sie eines Tags einen Brief des Geliebten in der Hand hielt, bemerkte sie mit Staunen, daß es der erste war, den sie nicht unter hundert Wünschen herbeigesehnt, und der erste, den sie ruhigen Herzens öffnen konnte. Die bedeutsame Gegenwart hatte die große Frage abgerückt, das Warten war
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