Die Geschichte der Anna Waser (German Edition)
rechter Holzboden vielerorten; aber die Liebe, so den dürren Stab begrünen konnt’, wird es wohl auch zustand bringen, daß wieder Pflanzen aufsprießen aus dem hölzernen Grund. Rebellion und wundersüchtig Wesen kann nur Verderben bringen und Zerstörung, die Liebe aber pflanzet nicht allein, sie gibt auch das Gedeihen dazu.“
Heinrich sah sie aus flimmernden Augen an: „Du, wann du früher so zu mir gesprochen hättest, leicht wär’ alles anders geworden; aber jetzt, jetzt ist’s zu spät!“ sagte er mühsam.
Zu spät? Es gab Anna einen kleinen Stich; aber dann lächelte sie: „Nein, nein! Nicht zu spät, Heini, da ist lange noch Zeit zum Umkehren und Erkennen!“ Und sie wollte ihm begütigend die Wangen streicheln; er aber fuhr zurück und warf beide Hände vors Gesicht und stöhnte:
„Oh, wann du alles wüßtest! Oh, solches hab’ ich getan, und wann’s auskommt, dann ist doch alles fertig und zu End, und es muß auskommen, es muß!“ Die Tränen stürzten hervor, und da er ihnen nimmer wehren konnte, brach er zusammen, kraftlos und elend wie ein angeschossener Vogel.
Es war schon tief in der Nacht, als Anna auf vorsichtigen Sohlen ihr Zimmer aufsuchte. Die Sorgen lagen ihr schwer auf dem Herzen wie eine schwarze formlose Masse; aber allbereits blitzte ihr daraus etwas entgegen, scharf und fein wie ein tapferer Entschluß: Dem armen mißleiteten Knaben mußte geholfen werden, um jeden Preis, und sie mußte helfen.
Am andern Morgen verließ Anna zu früher Stunde das Haus. Sie hatte die Pelzmütze ins Gesicht gezogen und ein unscheinbares dunkles Tuch übergelegt, darunter sich ein schwarzes Kästlein gar wohl verbergen ließ. Ihre Augen waren heiß von durchwachten und durchrechneten Stunden; aber ihr Blut hatte einen starken und hohen Schlag, und davon flammten ihr die Wangen.
Die Nacht hatte einen mächtigen Schnee auf die Erde gelegt, sodaß ihre raschen Schritte ungehört im weichen Grund versanken, und emsige Flocken verwischten die schmalen Spuren, die sie durch einsame Gäßlein trug. Vor dem letzten, baufälligen Hause einer gedrückten Hintergasse blieb sie stehen und maß zögernd die dunkel geöffnete Haustüre. Ein großes Mädchen mit verwirrtem schwarzem Haar und schwarzen Augen schlurfte ihr durch den nassen Gang entgegen.
„Wohnt hier der Proselyte 1 Christian Felix?“ fragte Anna und richtete sich hoch auf. Aber nachdem die andere mürrisch, mit neugierigen und mißtrauischen Blicken bejaht, zögerte sie immer noch, denn aus dem Hause schlug ihr mit dem Geruch von Unsauberkeit und unbestimmbaren Gewürzen ein heißer stickiger Dunst entgegen, und der Ekel schnürte ihr die Kehle zusammen. Dann aber raffte sie sich auf und setzte entschlossen den Fuß über die ausgetretene, schlüpfrige Schwelle.
Und der Ekel schüttelte sie immer noch, als sie nach geraumer Zeit das Haus wieder verließ. Sie lüftete das enggeschmiegte Umtuch von den Schultern und ließ eine Handvoll frischgefallenen Schnees durch die Finger stäuben, wie um sich zu reinigen. Wie das beschmutzte, Umgang und Handel mit solchen Menschen! Und solchen Orts hatte der Bruder Hilfe gesucht! Jetzt erst fühlte sie, wie tief Schwärmerei und Unwissenheit den Knaben in Gefahren verstrickt hatten, und die Eindrücke der dumpfen Gäßlein legten sich ihr schwer auf. Was mochte der Bruder alles gesehen haben, hier in der übeln Wirtschaft des Wucherers und gestern abend in dem verruchten Hause, und mußte solches nicht schaden und wie ein Gift bleiben in der jungen Seele, davon man nimmer gesundet?
Aber da fiel ihr Adam Mörikofer ein und wie sie einst gelitten unter seiner täppischen und gierigen Verliebtheit und wie sie vermeint, das Häßliche nie mehr abwischen zu können und es gleich einem Flecken durchs ganze Leben tragen zu müssen. Und heute? Dachte sie anders als mit einem Bedauern an den armen, unfreien Menschen zurück, heute, da sie sein Leben zum Teil überblicken konnte und wußte, wie der von versteckten Wünschen und Mißerfolg Gepeitschte endlich an der Seite einer braven Frau die Ruhe und in der Ausübung eines schlichten Handwerks Genügen und eine gewisse Freiheit gefunden? Schließlich, man überwand manches, und man wurde älter, und dann kam die Erkenntnis und brachte das Versöhnende. Aber zur Erkenntnis bedurfte es der Erfahrung, und dazu gehörte wohl auch das Häßliche, so sehr sich alles dagegen sträubte.
Auch Heinrich mußte darüber hinwegkommen, und was in ihren Kräften stand,
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