Die Geschichte der Anna Waser (German Edition)
setzte sie sich wieder neben den Bruder: „Was du glauben sollst?“ — ihre Worte waren betont — „Das sollst du glauben, daß du, ein argloser, unerfahrener Knabe, unter die unreine Influenz eines betrügerischen Menschen geraten, der durch das Mittel einer armseligen, innerlich zerrütteten und deshalb zu allerlei paroxysmi geneigten Person auf dich gewirkt. Nun aber dir die Augen aufgegangen, sollst du für alle Zeiten wissen, daß Gott nicht durch verrenkte und armselige Menschen zu uns redet — ob sie sich nun als Betrüger so gebaren oder als durch ihre eigne krankhafte Konstitution Betrogene — und daß er Mittel ganz anderer Art hat, um die Wunder seiner Weisheit zu künden.“
„Und die Heiligen, die Apostel, all die Gottgeweihten und Inspirierten früherer Zeiten, an denen ebensolche Wunder geschahen?“ Heinrich sah die Schwester von unten herauf forschend an.
„Das waren Emblemata,“ erwiderte sie rasch mit einer heftigen Gebärde, „Emblemata zur Zeit, da Gottes Volk noch ein Kind war. Heut aber, wo die Kirche ein Mann geworden, handelt Gott nicht mehr durch Gesichte, Träume und Weissagungen, am allermindsten in Zwinglis wahrer und klarer Kirche.“
Heinrich legte sein Gesicht zur Seite und lächelte, wehmütig und altklug wie ein Kind, dem man Märchen erzählt, daran es nimmer glaubt. „O ja, du redest wie die andern,“ sagte er leise, „wie sie alle reden, die Gerechten: Zwinglis wahre und klare Kirche, weilen sie nicht spüren, wie das ist, wenn man verhungert auf dem trockenen Boden und versengt in der klaren trockenen Luft.“
Anna senkte den Kopf und betrachtete ihre verschlungenen Hände. Da hatte sie sich zu einem raschen und gewöhnlichen Wort hinreißen lassen, und nun spürte sie selbst, daß es nicht stimmte. Jener ferne Abend stand vor ihr — ach, wie innig und weh war das Rückwärtsdenken an jugendfrühe Zeiten — da sie mit Rudolf und Lisabeth über den roten See gefahren mit heißen Herzen und heißen Köpfen. Hätte sie damals so vernünftige und unwahre Worte gefunden? Hatte ihr nicht die Seele gebrannt unter des Onkel Fähndrichs rebellischer Rede, und mußte sie ihr nicht heute noch zustimmen?
Sie sah Heinrich voll an: „Du hast recht,“ sagte sie einfach, „es ist wohl nicht so, wie ich sagte, und die zwinglische Kirche ist nimmer Zwinglis Kirche und die christliche Religion auch wohl nimmer Christi Religion; aber so du vermeinst, auf verworrenen und vermessenen Wegen aus der Öde auf gesund Land zu gelangen, so irrst du. Oder ist es etwan nicht Vermessenheit, wann ein Mensch sich über die bestehenden menschlichen und göttlichen Gesetze hinaus zu einem göttlichen Instrumente erkoren glaubt? Wunder, ja, und welch herrliche und unerfaßliche Wunder! Aber nicht für den Wundersüchtigen, für den allein, so stillhalten kann und auf sich selbst vergessen und lauschen. Denn die allergrößten Wunder kommen ganz schlicht, ohne Überschwang und ohne Gepränge … Der Heiland, als er auf den Berg stieg, um jene Worte zu sprechen, die alle Herrlichkeit der Welt zunichte machten und alle Seligkeit der Himmel erschlossen — siehst du ihn? Ganz allein auf dem kahlen gelben Berg, allein unter der gewaltigen Menge, und wie schlicht er dasteht, wie ruhig und unverstellt. Und da er sprach, ganz ohne hinweisende Gebärden und alles dunkeln und vieldeutigen Wesens bar, aber die Worte still und klar, wie der Morgenstrahl über der Sommerflur und mächtig wie Donnerschlag und unerschöpflich wie purpurne Wasser über den Tiefen des Meeres. Und jedes Wort ein neu Wunder, darob alle Welt sich entsetzte, und jedes eine neue Seligkeit. Aber das Schönste vielleicht dieses: Selig sind die reinen Herzens sind, denn sie werden Gott schauen.“
Anna erhob sich und trat ans Fenster. Einen Augenblick folgte sie den schwanenweichen Wolken, die schwer über die dunkeln Dächer hinstrichen; dann fuhr sie leise fort, mit fernem Antlitz, und es war ein seltsames Zittern in ihrer Stimm und ein ungewohnter weicher Klang:
„Ja, das ist es wohl, das reine Herz; aber die Kraft des reinen Herzens ist die Liebe. Sie macht, daß man Wunder sieht, oh, solche Wunder allenthalben, und daß man Gott schaut allenthalben und nicht zuletzt im eignen Herzen.“
Sie wandte sich wieder dem Bruder zu: „Siehst du, die Liebe, das solltet ihr lernen, ihr Gottesgelehrten, dann erst würdet ihr wahre Gottsucher und Gottfinder. Wahr ist es ja, unsere Kirche, ein öd’ Land ist sie geworden und ein
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