Die Geschichte der Anna Waser (German Edition)
bringen.“
„Nun,“ antwortete Anna ernst, „wann du dich dann nicht zu rechtfertigen vermöchtest, wohl ertragen müßtest du’s.“
Er sah sie erschreckt an und ohne Verständnis; dann aber fiel er ihr plötzlich mit Ungestüm um den Hals: „Du, du! An dich will ich mich nun halten, an dich glauben, wann nur du mir bleibst!“
Und Anna fühlte seine Wange naß an der ihren, und der kleine Heini fiel ihr ein, wie er ihr die tränenfeuchten Händchen um den Hals geworfen, damalen an jenem kaltklaren Wintermorgen, da sie Braunfels zufuhr, und wie er bat: „Geh nicht, Anna, bleib’ bei mir!“ Aber sie war gegangen — so weit, so weit — und darüber war er an den Abgrund geraten.
„Heini, Heini, großer Bub,“ sagte sie bewegt und küßte ihn und streichelte den noch zarten Nacken. „Ja, ich bin da, und nicht eher als du stark geworden und gesund und du den klaren Blick hast, verlaß ich dich.“
Als sie jedoch auf ihrem Zimmer war, allein, und sich die Gedanken von den wirren Erlebnissen klärten, fiel es ihr schwer aufs Herz, daß sie nicht sah, wie ihm zu helfen war. Sie wußte es wohl, mit der Erkenntnis des Übels waren die Mächte noch nicht abgetan, die solches heraufgeführt. Wie sollte sie den Träumling von der Schwarmsucht befreien? Und vor allem: die Leere, die nun in dem Knaben entstehen mußte, da alle Hoffnungen, Wünsche und Glauben weggefegt, wie sollte man die ausfüllen?
Aber zu Mittag kam die Esther Dietschin gelaufen, strahlend, und warf schon unter der Tür die Hände hoch und lachte: „Wißt ihr’s Neust? Das Estherlein kommt zurück, in zwei Wochen schon, unser Estherlein, denn eine Reisgelegenheit hat sich gefunden!“ Und lachte wieder und sprudelte tausend Dinge herfür, was schöne Sachen die Frau Bas aus dem Welschen von dem Kind geschrieben, daß es nicht allein die Sprache aufs erstaunlichste gelernt, sondern auch in denen Koch-und Haushaltungskünsten eine solche Tüchtigkeit an Tag gelegt, daß man gar einen Stolz mit ihm haben könne, und wenn sie ihm auch das wild und fast unberechenbar Wesen nicht grad hab’ abgewöhnen können, so denk’ sie, daß solches als in der Natur begründet auf spätere Reife zu verschieben sei. Dafür sei es ja auch ein rechts Herrgottskind und ein Sonnenschein, so ihnen allenthalben bös fehlen werde.
Das war nun eine wahre Freudenkunde, und wenn die andern nach ihrer stillern Art auch nicht gleich mit der fröhlichen Esther herausjubelten, es trug doch jedes den Abglanz eines Glückes auf dem Gesicht; denn das Estherlein, es hatte einem arg gefehlt all die Zeit, das fühlte man erst jetzt so recht, wo die Nachricht von seiner Rückkunft wie verfrühter Amselsang durch die Stube ging.
Aber Anna war es wie ein leises Dankgebet im Herzen: Gottlob, das Kind, das mußte ihr helfen, das war wohl geschaffen, um Lücken auszufüllen. Allerlei Pläne gingen ihr durch den Kopf von gemeinsamer Arbeit, und zu Esther sagte sie: „Daß es seine Kenntnis in der Sprach nicht verliert, sondern sie befestigt, dafür laß mich sorgen.“
Und die Schwester lachte gutmütig: „Kann’s mir denken, daß das wieder anfangen wird mit der Gelehrsame, wie früher auch schon. Aber sobald es die häuslichen Pflichten nicht verachtet, wann du daneben noch eine Gelehrtin aus ihm machen willst, kann’s mir gleich sein; man weiß allweg nie, zu was heutigstags die Meitlein noch gut sind.“
Nun hatten Annas Pläne einen sichern Weg. So mußte es sein: Die beiden wollte sie zusammenbringen, und das heiße rasche Estherlein mußte den Grübelsinn des Bruders aufstöbern und an die Helle reißen. Ja, und arbeiten wollte sie mit den beiden, etwas lesen mit ihnen, etwas Herrliches, ganz Großes, daran man sich und die Welt verlieren konnte, etwas, das vermochte, aus Nebeln herauszuleiten auf klar jung Land, und wiederum, was den Flattersinn in die Tiefe zog und ihm Wurzeln gab und Tüchtigkeit. Etwas Klares und Tiefes mußte es sein, mächtig und doch einfach und voller Weihe.
Sie dachte an Homer, und ein Schauer überzitterte sie. Wie hatte er einst in ihr Leben eingegriffen, so gewaltig und mit solch sichern Richtlinien, daß sie bis heute das Wunder an sich verspürte, und hatte doch so lange seine Sprache nicht mehr vernommen. Aber irgendwo in ihrer Seele, ganz zu innerst in einem kleinen verborgenen Winkel, ruhte etwas Köstliches unverlierbar, wie ein Schatz geheimer Kräfte, und irgendwie hing er mit jenen Jugendtagen zusammen, über denen der große
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