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Die Geschichte der Anna Waser (German Edition)

Die Geschichte der Anna Waser (German Edition)

Titel: Die Geschichte der Anna Waser (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maria Waser
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gelassen wie jene Märtyrer, die auch zusammenzuckten, als der erste Stein sie traf, aber für die spätern hatten sie nur mehr ein Lächeln.
    *
    An einem hellen Mainachmittag kehrte Anna mit Heinrich und dem Estherlein aus Zollikon zurück, wo Bruder Rudolf seit einiger Zeit im neu erworbenen Pfarrhaus der Gemeinde wohnte. Sie nahmen nicht den gewöhnlichen Weg dem See entlang, sondern den vielgestaltigen über den Berg, der sich mit schmalen, dunkeln Tobeln und sehr hellen Hügeln zwischen die feste Stadt und das Dörfchen drängte. Oben auf der Höhe hielten sie Rast. Anna fühlte sich vom steilen Weg, den sie in raschem Anstieg, Hand in Hand wie drei fröhliche Kinder genommen, ermüdet. Sie setzte sich unter einen der weißüberschäumten Birnbäume, während die andern durch die goldig gesprenkelten Wiesen hin den Blumen folgten.
    Gedankenvoll blickte sie den beiden nach, wie sie, ihrer Anweisung gemäß, mit sorgfältig hochgehobenen Füßen, Sumpfvögeln gleich, durch das blumige Gras stiegen, erst nach verschiedenen Richtungen, dann aber auf sich nähernden Pfaden, bis sie sich schließlich mitten in der goldenen Wiese fanden und ihre gelben Ranunkelsträuße lachend aneinander maßen.
    Anna nickte: Ja, so war es gekommen, ganz, wie sie es gehofft hatte; die gesonderten Wege hatten sich gefunden, und nun band sie bereits die junge gute Freundschaft aneinander. Verschieden waren sie ja auch heute noch, und neben dem blühend hellen Estherlein sah der Bruder immer noch zart und schmalbrüstig genug aus; aber die Haltung war doch kräftiger als früher, und dem schmalen Gesicht gab die gebräunte Haut ein gesunderes und männlicheres Ansehen. Jetzt eben, da er lachte und die Lippen über den weißen Zähnen fast rot erschienen, hatte er beinahe etwas Sorgloses. Anna betrachtete ihn zärtlich: die liebe braune Haut, die von Bergluft erzählte und viel Sonnenschein, die hatte er von der Exkursion mit Professor Scheuchzer zurückgebracht, dazu viel seltsamer Erlebnisse und einen hellern Blick und ein fröhlicheres Wesen. Es hatte zwar viel gebraucht, bis sie ihn zum Mitgehen gebracht; denn die abenteuerlichen, schier berüchtigten Bergfahrten des Gelehrten waren nicht nach des blassen Stubenhockers Sinn. Auch beim Vater hatte es der Überredung bedurft; aber schließlich hatte es sich doch geformt, daß er die Reise mitmachte. Erst widerwillig, dann mit immer größerem Anteil und schließlich mit einem heißen und wachen Eifer. Scheuchzer hatte es ihr selbst nachher erzählt: „Habt kein Kummer, mit dem Heinrich kommt’s allweg gut. Ist wie ein Pflänzlein, so allzulang am Schatten gesteckt, allwo es weiße und ungesunde Keim getrieben; nun aber es Licht geschmeckt, sollt sehn, wie freundlich es gedeiht. Und wann er auch nicht Ruedis Feuergeist hat, ein Flämmlein ist doch in ihm, und zwar kein verflackerndes, wohl aber eins, so kräftig werden wird und stet, wenn man es von denen Stürmen bewahren kann, die kleine Feuer erlöschen und große zum gefährlichen Brand schüren.“
    Heinrich selbst hatte nach seiner verschlossenen Art wenig davon erzählt; aber als sie ihn jüngst über seinen gesammelten Pflänzlein traf: „Weißt,“ hatte er leise gesagt, „der Professor, der hat auch die große Liebe, daß er allenthalben Wunder sieht, die wahren göttlichen Wunder,“ und dabei hatte es seltsam gezuckt in seinen Augen. Ja, der war nun in guten Händen und auf Pfaden, die von Tremulanten und Wucherern, von jeglichem unlautern und ungesunden Wesen so mächtig wegführten, daß keine Versuchung und keine Umkehr mehr zu fürchten war.
    Mit erleichtertem Seufzer lehnte sich Anna an den kühlen Stamm zurück. Ihr war so dankbar zumute wie einem, der aus bangen Irrwegen den rechten Pfad erkennt, oder einem, der eine schwere Last von sich ablegen darf. Sie ließ sich den kleinen Wind über die etwas zu heiße Stirn streichen und sah mit einem stillen Wohlgefühl auf das sonnig gebreitete Land. Noch hatte die Maienpracht nicht ihre Höhe erreicht, Blust und Blumen steckten noch halb in Knospen, und die kleinen, schmächtig entfalteten Blättchen der Bäume warfen nur dünne Rieselschatten über den Weg, die ganze Welt war erfüllt von tausend kleinen Zierlichkeiten.
    Anna lächelte: Der Frühling war recht wie ein Miniaturist, der mit zu kleinem Pinsel auf großer Fläche arbeitet, sodaß nun alles in lauter kleine Pünktlein aufgelöst erscheint, die ganze Welt in Millionen kleiner farbiger Pünktlein, weiß und

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