Die Geschichte der Anna Waser (German Edition)
hohen Schiff der alten Klosterkirche, an deren Wänden die steinernen Hunde der Ritter von Toggenburg strenge Grabwache hielten. Auf einmal fing es im Chor zu leben und zu leuchten an, und zwischen Erdbeer-und Rosenranken stiegen Engel auf und nieder, und der Casparli lachte: „Siehst du, Anneli, so wirst du sie malen!“ Doch da war es nicht mehr der Casparli, wohl aber Meister Werner, der ernsthaft die langen Locken schüttelte und mit strengem Finger zur offenen Tür hinauszeigte: „Erst wenn du hoch und klar bist wie die Jungfrau dort, soll dir das Werk gelingen.“ Vor der Kirche stund der weiße Berg, und Anna wollte zu ihm hinfliegen; aber der Flug ging tief, und die schweren Füße zogen immer wieder zur Erde. Plötzlich schwand die Last, leicht und schnell wie ein Vogel stieg sie in die Luft; aber wie sie nach dem ersehnten Ziel Ausschau hielt, da lag der weiße Gipfel schon tief, und mit den flatternden Wölkchen trieb sie im grenzenlos zerrinnenden Blau …
Der junge Tag lag mit bleichem Schein im Fenster und wehte mit halbverschlafenen Vogelstimmen in die Kammer, als Anna hellen Auges und gelösten Herzens erwachte. Erstaunt blickte sie sich in der neuen Umgebung um; aber da grüßte sie der kleine Raum, dem das Erlebnis des ersten Abends schon die Weihe gegeben hatte, mit vertraulichen Augen wieder. Sie erhob sich rasch. Es drängte sie dem neuen Leben entgegen. Ungeduldig kämmte sie ihr langes Haar, dessen feine Strähnen sich unter den flinken Fingern immer wieder verwirrten. Dann holte sie ihr liebstes Kleid hervor, das mit dem mohnroten, nicht allzu langen Fältelrock und dem gestickten Mieder, und ihre Arme empfanden mit einem wohligen Frösteln die etwas steife Kühle der weißen Leinenärmel. Sorglich ordnete sie ihr Stübchen, daß es frisch und duftig aussah wie der Maimorgen draußen, der mit blanken Augen einem neuen Sonnentag entgegenging. Sie stieg die kleine Treppe hinunter, die ihr hochgestelltes Stübchen mit den tieferen Räumen verband, und trat auf die schmale Galerie hinaus, die den kleinen, zu Mitte des Gebäudes gelegenen Hof umschloß. Auf der hölzernen Balustrade der Laube hatte Frau Werner mit allerlei grünen und blühenden Töpfen einen kleinen Garten angelegt, der dem Hof ein liebes und festliches Aussehen gab. Von oben grüßte ein durchsichtiger Himmel herein, und Anna fühlte sich wieder an ihre Kinderheimat erinnert und an den Kreuzgang der alten Abtei zu Rüti, dem gleichermaßen ein Stück Himmel zur Decke diente. Aus dieser Erinnerung aber kam ihr auch hier schnell ein frohes and heimeliges Gefühl.
Es war die Stunde, wo man im Waserschen Hause zum Frühstück ging. Aber hier war alles noch nächtlich still, und auch von der gegenüberliegenden Seite des Hauses, wo die Schlafzimmer der andern lagen, drang kein Laut heran. Auf leisen Füßen ging Anna weiter. Da fand sie sich vor der Türe der Malstube. Sie öffnete behutsam und trat in den großen, vom Morgenlicht weißlich erhellten Raum. Entzückt sog sie die gefangenen Düfte von Öl und Firnis ein. Das war die Luft, in der sie fortan leben und schaffen sollte, in der sie tüchtig und groß zu werden hoffte. Sie reckte den schlanken Körper, und ein stolzes Gefühl durchzog sie. Dann sah sie sich in dem schönraumigen Gemach um, das sie gestern nur flüchtig und mit unfreien Blicken betrachtet hatte.
Das war anders, als was sie bis jetzt gewohnt gewesen. Hier war nicht steife Ordnung, wohl aber schöne Freiheit Meisterin, obschon jeder Gegenstand auf zweckvoll tüchtige Arbeit hinwies, und man fühlte es, ein frischer Geist wohnte hier. Anna mußte unwillkürlich an die nüchterne, schier langweilige Lehrstube ihres früheren Meisters, des Zeugherrn Sulzer von Winterthur, denken, und der Vergleich führte sie weiter und ließ sie ihres ersten Lehrers ängstlich bedenkliches Wesen neben Herrn Werners großzügig weltmännischer Art sehen, und ihr war, als ob ihr eigenes Wesen auf einmal in einen großen und freien Raum gestellt würde, auf daß es sich entwickeln sollte wie ein Baum in der Ebene.
Über den drei Türen des Zimmers waren Sprüche angebracht, die Anna mit Ehrfurcht las, als ob sie ihres neuen Meisters Worte vernähme und ihres neuen Lebens Sinn daraus verstände. Zuversichtlich, ermutigend lautete der erste:
Ob schon die Kunst und Ehr hoch auf ei’m Felsen wohnen,
Kann doch ein stäter Fleiß ersteigen ihre Thronen.
Mehr tiefsinnig der andere:
Sälig sind mit Recht zu nennen,
Die der Dingen
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