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Die Geschichte der Anna Waser (German Edition)

Die Geschichte der Anna Waser (German Edition)

Titel: Die Geschichte der Anna Waser (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maria Waser
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sich zu fühlen, kam sie noch einmal ein leiser schmerzlicher Schauer an.
    Eine halbe Stunde später schritt Herr Werner mit seiner jungen Schülerin unter den dunkeln Laubengängen hindurch und dann querüber nach der Gerechtigkeitsgasse, wo sonnenhalb die altbekannte Herberge „Zur goldenen Krone“ stand. Unter der behaglichen Haustüre trat ihnen Herr Waser freundlich grüßend entgegen.
    „Meine heutigen Amtsgeschäfte sind allbereits getan,“ sagte er mit Genugtuung, indem er dem ihn begleitenden Wirt ein paar umfängliche Briefe übergab, solche dieser unter vielen Bücklingen aufs sorgfältigste zu besorgen versprach. „So kann ich mich also vor meiner Abfahrt noch ein Stündchen an der Schönheit Eurer Kunst und Vaterstadt ergötzen.“
    Die beiden Herren nahmen Anna in die Mitte, und während Herr Werner sich in mancherlei Lobreden über des Amtmanns nie versiegenden Fleiß und Schaffensdrang erging, begaben sich die drei laubenaufwärts nach der kurzen Kreuzgasse, Die sich überraschend auf den freien, vom Rathaus beschlossenen Platz öffnete.
    Schier festlich lag der schöne Bau mit dem einladenden Willkomm seiner mächtigen Doppeltreppe da; denn die helle Sonne vergoldete die Zinnen und zog allerlei Zierlichkeiten und den bunten Schmuck hervor an dem farbenreichen Wappenfries unter dem Dach, den figürten Steinen, den klaren Fenstern und der blanken neuen Uhr über dem hohen Portal. Und Taubenschwärme schillerten auf dem steilen Dach und gaben dem kleinen Glockentürmchen ob der Uhr ein lustiges Gefieder. Es war ein stattlicher und fröhlicher Anblick, der die drei rasch Ausschreitenden bewundernd stillestehen ließ, und während Herr Werner mit freundlichem Eifer berichtete, daß die neue Uhr in dem hübschen, nach neuem italienischem Stil gefertigten Gehäuse das rühmliche Werk eines Zürcher Meisters sei, betrachtete der Amtmann nachdenklich den freien Platz und dann wieder die enge Kreuzgasse, durch die sie eben hereingekommen.
    „Es ist mir immer wieder eine Überraschung,“ nahm er dann bedachtsam das Wort, „wann ich, aus der kleinen Gasse dort auf diesen Platz schreitend, plötzlich den schönen Bau vor mir stehen seh, und des öftern habe ich mich darüber verwundern müssen, wie ihr Berner eure schönsten und köstlichsten Dinge sonderbarlich von der großen Straße abzulegen, ja eigentlich zu verstecken wißt. Kann doch einer, der mitten durch eure Stadt und die weiträumige Hauptgasse gewandert, zwar von trutzigen Türmen und strengen Laubenhallen berichten, ohne jedoch von den feinen und wunderlichen Bauten zu wissen. Wer würde etwan hinter den dunkel sich öffnenden Türen der Junkerngasse jene hellen und frohmütigen Behausungen und die blühenden, den Hängegärten der Semiramis vergleichbaren Anlagen vermuten, deren ich gestern erfreuter Zeuge war! Mir ist der Turm eures Münsters,“ fuhr er fort, indem er sich langsam dem Rathaus näherte, „immer recht als ein Wahrzeichen dieser Gesinnung erschienen, da er ohne weithin sichtbare Spitze stumpf und verschlossen wenig genug von der Pracht dieser herrlichsten Kirche verrät, derweil unser schlicht Zürchermünster mit zweien Türmen und dem weithin kündenden Glanz seiner Helme wohlvernehmlich von sich redet.“
    Herr Werner nahm den Gedanken mit Lebhaftigkeit auf: „Das mag daran liegen,“ ergänzte er; „daß unser Bern, von jeher mehr dem wilden Kriegshandwerk als dem freundlichen Handel und Gewerbe obliegend, sich ein streng und trutzig Aussehen zu geben trachten mußte, weshalb es denn dem Fremdling auch mit ernsten und schier wilden Mienen entgegentritt, während das helle Zürich mit seinem grünen Fluß und lachenden See dem Wanderer sich aufs lieblichste öffnet. Gibt es doch kaum einen froheren und herzlicheren Anblick, als wenn man — wie ich zu unterschiedenen Malen getan — vom breiten See durch das stolze Grendeltor hereinfahrend, plötzlich die köstliche Flucht vornehmer und anmutiger Gebäude erblickt, die, ihre Füße im hellen Fluß badend, ein ander, gemütlicher und ehrbarer Venedig vortäuschen! Während unsere wilde Aare die gedrängte Stadt von der Umwelt abschließt, ist es eben eure freundliche Limmat, die so recht Handel und Gewerb und alles Leben hereinzieht, wie sie schon durch das lustige Klappern der Mühlräder an den niedrigen Stegen deutlich zu erkennen gibt.“
    Herr Waser nahm die Worte mit erfreutem Lächeln auf, und während die Herren den angezettelten Gedankenfaden mit vielen

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