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Die Geschichte der Anna Waser (German Edition)

Die Geschichte der Anna Waser (German Edition)

Titel: Die Geschichte der Anna Waser (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maria Waser
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treffenden und angenehmen Reden weiterspannen, stiegen sie gemäßigten Schrittes die gedeckte Treppe empor, die das hochgestellte Portal mit dem Platz verband.
    Gleich darauf standen sie im Ratssaal vor Herrn Werners großen Gemälden, unter denen der Amtmann besonders die Gerechtigkeit, welche die Missetat bestraft, bewunderte und von wegen ihrer Erfindung, Verstand und Zusammenstellung als ein unnachahmliches Meisterstück lobte. Anna hatte der Anblick des Bildes zunächst mit einem peinlichen, schamhaften Schreck erfüllt, der von den nackten, weißleuchtend in die Luft ragenden Schenkeln der gestürzten Missetat herrührte. Sie begriff zwar bald, daß das Laster schön und gemein geschildert werden müsse; aber es tat ihr doch um des herrlichen Bildes willen und der vier andern weiblichen Gestalten wegen leid, die sich als Weisheit, Gerechtigkeit, Wahrheit und Dankbarkeit mit rauschenden Gewändern und edeln Gebärden kräftig vom dunkeln Hintergrund abhoben, daß die unedle Gestalt des Vordergrundes ihre Schönheit und Würde störte. Indessen schien gerade diese Figur Herrn Werner besonders lieb zu sein.
    „Seht, gestrenger Herr,“ wandte er sich mit boshaftem Lächeln an den Amtmann, „ich habe mit Absicht das schönschenklige Weibsbild zur Missetat erwählet. Sie ist nicht allein verlockender und blühender, sondern auch kräftiger als die andern. Gleich wird die weiße Hand das Gold der Bestechung, das ihr noch nicht völlig entglitten, wieder fassen, und die rosigen Füße werden wieder den Boden gewinnen; denn solches ist der Welt Lauf, und der Gerechtigkeit erwächst immer neue Arbeit.“
    Verblüfft vernahm der andere diese Erklärung: „Dann hätten Weisheit und Wahrheit ihre Kronen füglich behalten und die Justitiam unbekränzt lassen dürfen, bis dem Laster die schnöden Händ auch wirklich gefesselt wären,“ sagte er tadelnden Tons. Aber Herr Werner lachte spöttisch: „Weisheit, Wahrheit und Justitia?“ und er wies mit bezeichnender Gebärde auf den majestätischen Halbkreis der breitspurigen Ratsherrensessel: „Die da, wann die reden könnten, edler Herr!“
    Später führte er die beiden eine Treppe tiefer, in eine kellerartige Halle, allwo große Mauerstücke in langen Reihen aufgestellt sich fanden.
    „Wann ich mir mit meiner Gerechtigkeit einen kleinen Hieb erlaubt habe,“ sagte Herr Werner, „so möget Ihr hier sehen, wie der große Niklaus Manuel mit seinen Herren und Obern umzuspringen sich vermaß; es sind dies die Reste der Kirchhofmauer, die vom alten Predigerkloster hier herübertransportiert worden sind.“
    Mit bröckelnder Oberfläche und verblassenden Farben standen die grimmen, rührenden Bilder des seltsamsten Totentanzes in dem sonnenlosen Raum. Lag ein Modergeruch in der Luft? Anna fröstelte beim Anblick dieser fremden Totengestalten, die nicht Gerippe und nicht Menschen waren, sondern mit ihren zahnlosen Hängekiefern, den fleischig behangenen Knochen und grausigen Haarsträhnen bald halbverwesten Leichen, bald halbtierischen Wesen glichen. Und diese fürchterlichen Lemuren griffen mit scherzenden Händen nach dem Leben rings, dem welken und dem blühenden, und zogen alle ohne Unterschied in ihre wilden und spöttischen Tänze, Kaiser und Papst, Herr und Knecht, die edle Matrone und das junge Mädchen, das mit stillen Augen und gerungenen Händen die wüsten Zärtlichkeiten eines lüsternen Gerippes über sich ergehen ließ. Es war grauenvoll, und dennoch konnte Anna ihre Blicke nicht von diesen wilden und so wehen Phantasien reißen. Sie sah, wie hinter den derben und schwermütigen Gestalten heitere holde Landschaftsbilder sich hinzogen, stille Gefilde mit frischgepflügter Erde und verblauenden Seen, feste Städtchen mit lustigen Turmspitzen, frech getürmte Berge und muntere Wölklein im stillen Blau — hinter den wirren Szenen des Vergehens das ewige blühende Leben. Und sie entzückte sich an diesen hellen ungebrochenen Farben, die sie an ein fernes Erlebnis und den geheimnisvollen Engelskopf im Chor der Kirche zu Rüti erinnerten.
    Es war alles so sonderbar hier, grauenvoll und doch tief und innig, fremd und doch im letzten vertraut.
    Stumm, wie unter einem starken Eindruck, schritten sie die Rathaustreppe hinunter auf den Platz. Der Amtmann ergriff zuerst das Wort:
    „Es war eine rohe Zeit,“ sagte er mit mißbilligendem Kopfschütteln, „die sich vermaß, das ernsteste Ereignis unter dem närrischen und unedeln Bilde wüster Tänze

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