Die Geschichte der Anna Waser (German Edition)
Grund erkennen.
Aber der dritte, mahnend und aufpeitschend wie das hastige Ticken der Uhr:
Lange Kunst und kurzes Leben
Ist dem Menschen fürgegeben.
Anna atmete tief auf; aber dann lächelte sie ein wenig: Kurzes Leben? Ja, sie stand doch noch am Anfang, und die vielen, vielen Jahre mit den vielen, vielen Tagen, von denen sie jeden ausnutzen wollte, sollte das nicht langen, damit man etwas Schönes, vielleicht das ganz Große schaffen konnte? Ein heißer Eifer ergriff sie, daß sie am liebsten Pinsel und Farbe zur Hand genommen und sich jetzt gleich ans rüstige Werk gemacht hätte.
Sie trat vor die verschiedenen Staffeleien und betrachtete die Arbeit ihrer Mitschüler. Vor derjenigen des stolzen Lukas Stark blieb sie bewundernd stehen. Die Zeichnung des Laokoonkopfes, so die andern kaum begonnen, war hier fast vollendet in klaren, abgewogenen Linien, die das leidverzerrte Gesicht mit staunenswerter Lebendigkeit wiedergaben. Das war vorzüglich, und ein nur zur Hälfte scherzhaftes Wort Herrn Werners fiel ihr ein, das er bei der Vorstellung gebraucht: „Lukas, auch Lux genannt, dieweil er Licht und Leuchte unserer Schul!“
Unter der Zeichnung war in feinster Kalligraphie ein Vers hingeschrieben. Sie bückte sich, um die kleinen Schriftzüge zu lesen. Aber da öffnete sich die Türe, und Lukas Stark stand mit überraschtem Gesicht vor ihr. Dann zog er die Lippen hoch mit einer verächtlichen Gebärde: „Ah, man fängt schon an, Kontroll zu üben?“
Verwirrt trat Anna von der Staffelei zurück: „Ich habe versucht, die Aufschrift zu lesen.“
„Bemüht Euch nicht umsonst,“ erwiderte Lukas höhnisch; „es ist nämlich Latein!“
Anna blickte ihn verwundert an: „Das habe ich doch gesehen, es ist ein Vers aus dem herrlichen Virgil.“
„Ah, selbst lateinisch kann man!“ rief jener betroffen; aber dann flackerte es wieder durch sein Gesicht: „So versteht Ihr vielleicht auch den Satz: Nihil intolerabilius quam foemina docta! 15 “ Anna fuhr auf, mit großen, überraschten Augen, und ein ander schlagfertig „ intolerabilior “ wollte ihr über die Lippen; aber da traf sie aus des Jünglings unruhigem Gesicht ein solch feindlicher Blick, daß sie verstummte. Haß und Feindschaft! Derlei kannte sie nicht. Sie kam sich vor wie preisgegeben und entwaffnet. Ein heißer Stich in der Herzgegend trieb ihr langsam das Blut in die Wangen; aber sie warf den Kopf stolz zurück und wandte sich scheinbar ruhig dem Ausgang zu. Unter der Türe traf sie mit Frau Werner zusammen.
„Ist’s möglich! Das hätt’ ich mir doch nimmer gedacht,“ rief die Freundliche mit scherzhaftem Entsetzen, „daß der ehrgeizige Frühaufsteher dort in meinem Töchterlein einen Rivalen finden würd’!“ Und sie nahm Anna bei beiden Händen und zog sie wieder ins Zimmer zurück, der Helle zu und betrachtete sie angelegentlich.
„Aber nett siehst heute aus!“ lachte sie vergnügt. „So gefällst mir, hübsch rot die Wängelein, und die frische junge Tracht! Da sieht man doch auch ordentlich, daß noch ein Kind bist. Nur die Haube, Liebchen, die Haube mag ich nimmer. Laß du die den Ehefrauen und haarlosen Demoisellen! In meinem Hause soll das Jungvolk sein Köpfel noch der lieben Sonne zeigen dürfen!“ Damit löste sie ohne weiteres die schwarzen Samtbänder unter Annas rundem Kinn und nahm der zaghaft sich Sträubenden die schwarze, Stirn und Wange knapp umschließende Kappe vom Haupt „Ach, das schöne Haar!“ rief sie dann überrascht und strich dem Mädchen über die reichlichen Flechten, die enggeschmiegt den wohlgeformten Kopf umwanden. „Das ist eine seltene Farbe, wie so reife Kastanien, die eben aus der Schale springen.“ Dann erkundigte sie sich nach dem Traum der ersten Nacht, der gar bedeutungsvoll sein sollte; als aber Anna von dem seltsamen Gesicht erzählte — etwas zaghaft, denn sie tat es nicht gern in Anwesenheit des andern — lachte sie laut und gutmütig: „Ach was, fliegen? Warum nicht gar? Auf seinen Füßen tapfer und froh durchs Leben zu stapfen, das braucht’s, aber kein Flügel nicht!“ Und sie legte ihre Hand um Annas Schulter und schritt mit ihr zur Türe hinaus, ohne sich weiter um Lukas zu kümmern, der mürrisch in seiner Ecke stand. Und Anna spürte die warme mütterliche Hand, und davon kam ihr ein sicheres Gefühl. Wie beschützt kam sie sich vor und bewahrt, und nur, als sie auf der Treppe Lukas hinter sich herkommen hörte und vermeinte, seine heißen und hassenden Blicke an
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