Die Geschichte der Anna Waser (German Edition)
war vom Jubel über den Ausgang des Krieges und den endgültigen Sieg der Reformierten, der im Aarauer Frieden sauber und glänzend besiegelt lag, schämte sie sich schier, daß ihre eigne stille Freude, die so natürlich mit der allgemeinen ging, weniger den großen äußern Ereignissen entsprang als einem persönlichen Erlebnis.
Zum ersten Mal war es ihr gelungen, in einem kleinen, noch unscheinbaren, aber für sie umso wertvollern Werklein etwas von der neuen Anschauung auszudrücken, die ihr an jenem Maientag aufgegangen und die sie, wie ihr nun klar wurde, schon früher vorgeahnt hatte, damalen schon, als sie unter Luxens Augen im grünhallenden Walde ihr erstes selbständiges Bild geschaffen.
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1 gr.: Ankömmling, Fremdling; jemand, der zu einer anderen Religion übertritt. Anm. d. Bearb.
8. Wie der Rauch von einer Glut …
An einem sehr hellen Jännermorgen schritt Anna, von der mindern Stadt herkommend, der Limmat zu. Mütze und Überwurf aus langhaarigem Pelz waren vom Raureif überzuckert und die Wangen gerötet, gleichermaßen von Kälte und rascher Bewegung. Der überaus klare Morgen hatte sie zu einem kurzen Frühgang verlockt, und eben kehrte sie vom frostschimmernden Lindenhof zurück auf einem artigen Umweg, der ihr von der obern Brücke aus noch einmal den Blick auf See und Alpen gönnen sollte. Als sie indes auf die Brücke trat, war der Glast des sonnenbeschienenen Wassers so mächtig, daß sie ihre Augen geblendet vom See weg flußabwärts wenden mußte. Da fesselte auf der andern Seite des Stegs eine seltsame Erscheinung ihren Blick. Hinter dem lustigen Brunnenhäuschen, das stattlich aus vier Röhren sein helles Wasser spendete, erhob sich eine mächtige, glitzernde Zierlichkeit oder besser: ein Gebäude von tausend durchsichtigen Zierlichkeiten, darinnen die Morgensonne mit Funkeln und Blitzen ein abenteuerliches Wesen verführte.
Anna beugte sich über den Brückenrand, um das wundersame Gebilde zu betrachten, und da sah sie, daß es nichts anderes war als Gerüste und Balkenwerk des großen Wasserrades, das diese hartkalten Tage durch Gefrieren der herausspritzenden Wellchen und Tropfen mit einem vielzackigen Eismantel bedeckt hatten. Und da durch das unaufhörlich herangeschleuderte Wasser immer neue Zapfen und Nadeln sich bildeten, hatte sich das Ganze zu einem vielgestaltigen Eiskoloß ausgewachsen, der wie eine funkelnde Kristallburg auf den breitfließenden Wellen zu schwimmen schien. Mittendurch aber rauschte das gewaltige Rad, unablässig das klare Wasser dem Brunnenhäuschen zuführend, und ein paar Möwen flogen ab und zu mit dünnem Kreischen und setzten sich träge auf den Querbalken, der zu oberst die kristallenen Säulen verband. Mit erfreuten Augen durchforschte Anna die fremdartigen und wundervollen Gestaltungen, und gern hätte sie ihr Skizzenbüchlein hervorgezogen, um einige der merkwürdigsten Figuren festzuhalten, wenn ihr solches des Aufsehens wegen, das jedes ungewöhnliche Tun gleich verursachte, nicht zuwider gewesen wäre. Sie begnügte sich deshalb mit scharfer Beobachtung, und dabei entzückten sich ihre Augen immer mehr an dem seltenen Anblick. Welch unermeßlich reiche Spenderin war doch die Natur! Aber solch regelvolle, kunstmäßige Erscheinungen förderte sie doch nur unter ganz besondern Verhältnissen zutage, nur aus der tiefsten, ungestörten Ruhe erwuchsen die scharfkantigen, lichtsprühenden Wunder der Steinwelt, und nur die härteste, unerbittliche Kälte brachte solche Eismärchen zustande. Und sie dachte weiter: War es mit den menschlichen Dingen anders? Kamen nicht aus der großen, ungetrübten Ruhe der Seele und aus dem klaren und kalten Geist allein die durchsichtigen, scharfen Gedanken und die ungetrübten, weittragenden Taten?
Ja, ja, daran hatte es ihr wohl gefehlt, an der sichern Ruhe und klaren Kühle. Aber in der letzten Zeit, war es nicht beinahe, als ob es sich in ihr gelegt hätte, all das Heiße und Getrübte und Qualvolle, und als ob etwas in ihr aufwachsen wollte, das kalt war und durchsichtig wie diese Eiskristalle und daraus eine scharfe und unbedingte Kraft entsprang?
Sie richtete sich hoch auf und atmete kräftig die trockene Luft, und ein stilles, schier glückliches Lächeln ging durch ihr Antlitz. Dann wanderten ihre Blicke flußabwärts nach der andern Brücke, die weiter unten neben dem Rathaus einen betunlichen Weg über die Limmat führte, und sie forschte mit geschärften Augen nach dem andern Wasserrad, das auch
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