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Die Geschichte der Anna Waser (German Edition)

Die Geschichte der Anna Waser (German Edition)

Titel: Die Geschichte der Anna Waser (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maria Waser
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sich zu einer schönen, unverbrüchlichen Kette.
    Als Anna am Abend dieses Tages unversehens durch ihre Malstube ging, zog sie ihr Jugendbildnis um ein weniges aus der dunkeln Ecke hervor und betrachtete es eine geraume Weile, und wann sie es auch mit einem stillen Seufzer wieder zurückschob und dann mit trübem Lächeln an Giulios Bild hängen blieb, der erste Gedanke an die Möglichkeit eines Anschlusses an frühere, unverdorbene Zeiten und eines neuen Anfangs war ihr doch an diesem Abend ganz leise durch den Kopf gegangen. Und keine zwei Monate gingen ins Land, als Elisabeth eines Tages mit freudigem Schreck das verschmähte Bildnis wieder an der Wand entdeckte, und wenn es auch nicht an der alten Stelle hing, sondern neben Giulios unheimlichem Gemälbe, es war doch wieder da und blickte einen mit schalkhaften Augen an und warf mit dem roten Röcklein und hellen Mieder einen freundlichen Schein in die Stube, und war die alte Anna mit dem klaren Blick und dem klugen Mund und mit den kunstreichen, malfreudigen Händen.
    Als Elisabeth es Heinrich erzählte, ganz im verstohlenen und ohne daß die Schwester es ahnte, da lachte er wie ein Junge, und sie küßten sich und sahen sich voller Hoffnung in die Augen und voller Glück. Wann sie erst wieder malen würde, ja, dann!
    Indes Pinsel und Farben hatten lang Ruhe. Wohl weilte Anna nun ab und zu wieder in ihrer alten Stube, sodaß es bewohnter aussah droben und freundlicher, aber ihr Malgerät blieb unberührt. Sie stöberte dann etwa in altem Kram und Büchern, mit einer hastigen, verstohlenen Art von einem zum andern gehend, und bloß wann ihr das gewichtige weißlederne Büchlein in die Hand kam, das ihr Herr Morell verehrt hatte an jenem schneeschweren Neujahrstag, verweilte sie wohl ein wenig länger, und es mochte geschehen, daß sich ihre schmalen Wangen leise röteten ob solchem Tun und daß sie nachher mit nachdenksamen Augen und tieferem Atem die stille Stube verließ.
    Bei einer solchen Gelegenheit war es auch, daß ihr einmal ihre alten Entwürfe in die Hände kamen. Zögernd breitete sie die gelblichen Blätter vor sich aus; während sie aber hineinschaute, erst flüchtig und dann mit immer gespannteren Blicken, und die zarten und heftigen Linien vor ihr zu leben begannen und die Formen sich füllten mit altem verlorenem Gut, geschah es, daß ihr plötzlich mit einer unbegriffenen Freude ein Strom lange versiegter Lebenskraft durch die Brust ging mit solchem Ungestüm, daß ihr die Tränen hervortraten und sie die Hände aufs Herz pressen mußte, und wußte doch nicht, woher dieses plötzliche und starke Gefühl kam und ob die Macht alter, lange vergessener Erinnerungen schuld daran war oder die Ahnung einer neuen Erkenntnis.
    An diesem Abend aber war es, daß Anna zum ersten Mal jene seltsame, kurze Bitte unterließ, die sie sonst seit ihrer Leidenszeit jedem stillen Gebet angeschlossen — erst heiß, wie eine flehende Forderung, dann stiller und schließlich schier gewohnheitsgemäß — und daß sie die ganze Inbrunst ihres Herzens in das eine Wort legte: „Dein Wille geschehe.“
    Und manches ward anders seit jenem Abend, und eines Tags begab es sich, daß sie an Giulios Bildnis eine Entdeckung zu machen vermeinte und mit freudigem Staunen gewahrte, wie es kein Zerstörtes, noch Abgebrochenes zeigte, wohl aber ein gefangenes und verhülltes Leben, sodaß man bloß die Schleier zu heben brauchte, die den Anblick trübten, um ein Frisches, Lebendiges und Vollendetes zu befreien, und ein starkes Gelüste kam sie an, solches vorzunehmen. Indes hinderte sie daran ein abergläubisches Gefühl, das ihr verbot, das Werk des Toten anzutasten. Aber es zwang sie von nun an doch, daß sie immer wieder in dem rätselhaften Bilde verweilen und darnach forschen mußte, welcher Art es anzustellen wäre, um das Verborgene ins Leben zu ziehen und Vorgedeutetes auszuführen.
    Solchermaßen kam es, daß sie sich schier unbewußt und ungewollt wieder mit Pinsel und Farbe beschäftigte, und wenn es auch bloß in Gedanken geschah und sie mit keinem Finger die brachliegenden Geräte berührte, ein Weg hatte sich doch geöffnet, und es bedurfte bloß des Anlasses, damit sie ihn auch wirklich betrat.
    Inzwischen aber war es Winter geworden, und aus der farblosen Welt kam kein Ansporn, und die dunkeln Stuben und langen Abende brachten viel trüber Gedanken und Rückfälle in alte schlimme Leiden. Zudem ging in dieser Zeit durch die Vaterstadt ein aufgeregter Lärm von

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